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Zukünfte von Arbeiten und Lernen

Eine auf Zukunft gerichtete Perspektive hat der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung eine lange, große Vergangenheit. Die Hoffnung auf eine neue, bessere, sicher kommende Welt, ein fester Fortschrittsglaube war scheinbar unbrüchlich mit der Arbeiterbewegung verbunden. Das 1914 von Hermann Claudius (Hamburg) gedichtete Lied „Wann wir schreiten Seit an Seit“ nimmt Motive der Jugendbewegung auf, setzt auf eine wiedergewonnene Versöhnung von Mensch und Natur, die Gemeinsamkeit von Frauen und Männern, von Jung und Alt und auf die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft.

Wann wir schreiten Seit an Seit
Und die Wälder widerklingen,
Und die alten Lieder singen
Mit uns zieht die neue Zeit!
Fühlen wir, es muss gelingen.


Wenn heute über das Verhältnis von gesellschaftlichen Bewegungen und Zukunft diskutiert wird, ist das viel schwieriger geworden.

Die Tradition hat die Perspektive verschleiert. Einfach von Fortschritt zu reden, wird unglaubwürdig angesichts der Katastrophenfolgen mächtiger Techniklinien: Atomkraft, Verkehrssysteme. Apparate-Medizin, industrielle Agrarproduktion usw. haben die Gefahren, die Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit technischen Fortschritts aufgedeckt. Auch ökonomisches Wachstum spaltet sich auf in immer unvorstellbarer hohen Reichtum und Überfluss bei wenigen und entwürdigende Armut bei vielen. Die politische Perspektive einer „Postdemokratie“ entmündigt die Mehrheit der Bürger und dient substantiell den Interessen der Herrschenden.

Wie kann man also heute noch von „Zukunft“ reden und diesen Begriff positiv besetzen? Es gibt weiterwirkende Erinnerungen in der Gewerkschaftsbewegung. Vor 40 Jahren vom 11. bis 14. April 1972 fand in Oberhausen der Kongress der IG Metall „Aufgabe Zukunft: Verbesserung der Lebensqualität“ statt.

Zur Diskussion stand nicht die Anpassung an die technisch-ökonomischen Tendenzen, sondern die Frage nach gesellschaftlichen Perspektiven in den hochentwickelten Ländern. Otto Brenner, erster Vorsitzender der Industriegewerkschaft Metall von 1956 bis zu seinem Tode am 15.April 1972, machte deutlich, dass die IGM und die Gewerkschaften „sich nicht darauf beschränken, soziale Detailkorrekturen am kapitalistischen Planungs- und Entscheidungsprozess zu fördern“, aber gleichzeitig, „dass es nicht darum gehen kann, fix und fertige Utopien für die perfekte Organisation einer fernen Zukunftsgesellschaft am Reißbrett zu entwerfen“ (Friedrichs, Günther: Aufgabe Zukunft: Qualität des Lebens. Bd. 8. Frankfurt/M. S. 11).

Diese Diskussion war danach wieder lange Zeit verschüttet, kommt aber besonders immer dann wieder hoch, wenn Krisenkonstellationen längerfristige Horizonte aufbrechen lassen. Euro-Krise, Finanzkrise, Produktionskrise stellen Fragen nach grundsätzlichen Alternativen. Scheinbare Ausweglosigkeit öffnet, erzwingt sogar zugleich die Suche nach Offenheit. Deshalb ist es sinnvoll die Diskussion um Zukünfte neu zu beleben. Dies kann nicht mehr ausgerichtete sein auf einen eindeutigen, festgelegten Zielpunkt des Fortschritts, sondern beschreibt eine Suchbewegung nach positiven gesellschaftlichen Perspektiven. Zukunft gibt es nur in einer Mehrzahl der Möglichkeiten – also als Zukünfte.

Als Orientierungspunkte können die Stichwörter Lebensqualität und humane Arbeit aufgenommen werden. Wobei auch deutlich wird, dass Zukunftsfragen unterschiedliche Zeiträume erschließen. Bewusst kann die Auseinandersetzung mit Utopien die eingefahrenen Routinen öffnen und fraglich werden lassen. Sehr grundsätzlich setzt sich Oskar Negt mit den Strukturen des kapitalistischen Systems auseinander. Der den Gewerkschaften kritisch und zugleich solidarisch verbundene Sozialphilosoph knüpft an die Marxsche Analyse an und verweist auf theoretische Grundlagenprobleme der Weiterentwicklung. Dies ist ohne erhebliche Anstrengung des Denkens nicht zu haben.

Langfristige Quellen des Zukunftsdenkens sind durchaus anschaulich in den Bildern des Paradieses, des Schlaraffenlandes und der Insel Utopia zu finden. Sie liefern den Hintergrund vor dem sich die Suche nach Zukünften abspielt. Sie wirken fort und sind auch nicht aufgebbar. Sie regen an sich mit gegenwärtigen Zuständen kritisch zu befassen.

Damit wird verwiesen auf konkrete Zukünfte von Arbeiten und Lernen. Trotz aller Bedrohungen gilt es daran festzuhalten, dass die Perspektive der Subjekte nicht verloren geht. Alternative Realitäten als Möglichkeiten zu denken, heißt dann, wie Jana Trumann betont, scheinbare Sachzwänge zu hinterfragen und alternative Interpretationen einzubringen – den Mut dazu zu entwickeln, ist dann eine elementare Aufgabe von Bildungsarbeit.

Im Kern gewerkschaftlicher Arbeit im Bildungsbereich steht nach wie vor die Entwicklung und Sicherung der Berufsbildung. Die gegenwärtige Form des „Dualen Systems“ wird lange schon in Frage gestellt, einerseits verteidigt, andererseits als überholt abgehakt. Klaus Heimann versucht eine mittelfristige Entwicklungsrichtung zu begründen, die sich an die Leitlinie moderner Beruflichkeit anlehnt.

Solche Zukünfte mittlerer Reichweite müssen für weitere Handlungsfelder entwickelt werden, Sie können sich an konkreten Utopien orientieren: Langfristig kann der von Marx formulierte Imperativ wirksam werden, die „Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, … also, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx/Engels - Werke. Bd. 1. Berlin. 1976. S. 380).


Prof. Dr. Peter Faulstich
Denk-doch-mal 3/2012


Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 22.08.2012

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024