Berufliche Weiterbildung

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Arbeitshilfe zur tarifpolitischen Gestaltung der beruflichen Weiterbildung

Warum wird die berufliche Weiterbildung immer wichtiger?

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Warum wird die berufliche Weiterbildung immer wichtiger?


Kaum ein anderes gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Ziel findet einen so breiten gesellschaftlichen Konsens wie die Forderung, Weiterbildung auszubauen. Weiterbildung ist zu einem Mega-Thema geworden. Unbestritten ist ihre wachsende Bedeutung für Innovation und damit Wirtschaftswachstum und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Ausreichende Qualifikationen und der Erhalt der Voraussetzungen, diese fortlaufend zu erneuern, die Bereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umzulernen und neu zu lernen, ist ein elementarer Standortvorteil hoch entwickelter Ökonomien. Das entscheidet auch über die Zukunftschancen des Produktions- und Dienstleistungsstandortes Deutschland.

Die Frage ist nicht, wie von neoliberaler Seite immer lauter vorgetragen, wie durch Einschnitte in die Verteilungspolitik Wachstum zu erzielen ist. Den Wettlauf um die billigste Hose, den billigsten Kotflügel oder das billigste Bus- bzw. Reiseunternehmen kann Deutschland nicht in Europa und schon gar nicht weltweit gegen die internationale Konkurrenz gewinnen. Die Erhöhung des Wirtschaftswachstums, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und damit die Verringerung der Arbeitslosigkeit sind für Deutschland nur möglich über Innovationen, also intelligente hochwertige Produkte und Dienstleistungen, für deren Herstellung Qualifikationen und menschliche Kreativität zum entscheidenden strategischen Faktor werden.

Was für Wirtschaft und Gesellschaft gilt, gilt auch für die Chancen des Einzelnen. Weiterbildung wird für die Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Menschen immer wichtiger. Immer mehr entscheidet sie mit über die Sicherheit des Arbeitsplatzes, über Einkommenserhalt und -verbesserung, berufliche und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, Mitbestimmungschancen bei der Gestaltung der Arbeit und Erwerbschancen bei Arbeitslosigkeit. Die Gründe dafür liegen sowohl im Dienstleistungs- wie auch im Industriebereich in der immer schneller werdenden Veralterung von Wissen. Beschäftigte in vielen Branchen und Dienstleistungsunternehmen wie Sozialversicherungen, Arbeitsverwaltung, Banken etc. können ein Lied davon singen, wie schnell sich ihre Tätigkeiten verändern und Kenntnisse und Fähigkeiten auf den neuesten Stand gebracht werden müssen. Allein schon dieser Prozess zwingt zur permanenten Weiterbildung. Wer sich dem entzieht, dem droht das berufliche Abseits oder sogar die Kündigung.

Beschäftigung wird in zunehmendem Maße sicherer und für die Betroffenen lohnender, wenn die vorhandenen Qualifikationen in Breite und Tiefe entwickelt werden. Innovative Arbeitspolitik mit flachen Hierarchien, Dezentralisierung, Gruppen- und Projektarbeit erfordert ganzheitliche komplexe Qualifikationen mit ausreichendem allgemeinen, sozialen und beruflichem Wissen, arbeitsplatzübergreifendem Verstehen und Können, statt kurzfristig dem aktuellen betrieblichen Bedarf untergeordnete Anpassungsmaßnahmen.

Der Nutzen beruflicher Weiterbildung weist deshalb für uns als Gewerkschaften auch immer über die kapitalverwertbare Sicht hinaus. Kenntnisse über Dienstleistungs- bzw. Produktionsprozesse und ihre Rahmenbedingungen sind die Basis, um die Prozesse zu gestalten und verändern zu können. Aus- und Weiterbildung sind eine unverzichtbare Grundlage für Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit des Einzelnen und die Chance zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht.

Und für die wachsende Relevanz im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit gilt: Arbeitslosigkeit ist vor allem die Arbeitslosigkeit der Nicht- oder Geringqualifizierten. Die Quote der Arbeitslosen ohne Berufsabschluss liegt in den alten Bundesländern bei ca. 21 % und in den neuen Ländern bei ca. 51 %, mit steigender Tendenz. D. h. im Westen ist jeder 5. Geringqualifizierte und im Osten jeder 2. Geringqualifizierte arbeitslos. Der Anteil der Arbeitslosen unter den Hochschulabsolventen liegt im Vergleich dagegen im Westen nur bei ca. 3,5% und im Osten bei 6%. Je besser also die Qualifikation ist, umso geringer ist das Risiko der Arbeitslosigkeit. Das gilt mit Abstufungen auch für alle anderen beruflichen Qualifikationen wie Facharbeiter, Techniker, Meister etc. Warum ist das so?

Dafür gibt eine es ganze Reihe von Ursachen. Zunächst sind aber einfache Anlerntätigkeiten in der Regel diejenigen, die zuerst automatisiert, wegorganisiert, abgebaut, ausgelagert oder in Billiglohnländer verlagert werden. Hunderttausende von Arbeitsplätzen verschwinden auf diese Weise jährlich aus der Bundesrepublik und aus Europa. Neue Arbeitsplätze entstehen im Bereich der Anlerntätigkeiten so gut wie keine, weil sie kaum mehr benötigt werden. Seit 1975 hat sich die Zahl der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte halbiert. Allein zwischen 2003 und 2004 wurden 200.000 Arbeitsplätze in diesem Bereich bundesweit abgebaut. Dieser seit Jahren bestehende Prozess wird vermutlich weiter anhalten, wenn nicht sogar durch die Globalisierung weiter anwachsen. Auch höhere Wachstumsraten und eine bessere Konjunktur werden daran kaum etwas ändern. Das beliebte Hoffen auf einen Konjunkturaufschwung hilft definitiv nicht weiter, weil nach den Erkenntnissen des IAB das Problem nicht konjunkturell, sondern strukturell bedingt ist.


Warum nehmen die Chancen, an Weiterbildung teilzunehmen, ab?

Wer sich weiterbilden will, stößt auf viele Barrieren. Um die Leistungsfähigkeit der Weiterbildung in Deutschland ist es nämlich nicht gut bestellt. Das zeigen nicht nur internationale Vergleichsstudien des Bundesinstituts für Berufsbildung, sondern auch Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und ganz zuletzt die Ergebnisse der vom Bund eingesetzten Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens. Sie bescheinigt dem System in ihrem 2004 erschienenen Endbericht erhebliche Mängel, hohe Selektivität, mangelnde Zukunftsfähigkeit und gravierende Unterinvestition.
  • Seit Mitte der 90er Jahre stagnieren die Ausgaben der Betriebe, die Ausgaben der öffentlichen Hand sind rückläufig bei gleichzeitig steigenden Ausgaben der privaten Haushalte. Privatpersonen geben inzwischen 14 Mrd. € für ihre berufliche Qualifizierung aus und tragen den größten Kostenanteil vor Staat, Bundesagentur für Arbeit und privaten Unternehmen.

  • Unverändert sind 75 % der kleineren und mittleren Betriebe bei der Weiterbildung nicht aktiv.

  • Die Weiterbildungschancen sind unterschiedlich verteilt nach Schulbildung, Alter, beruflicher Qualifikation und Position, Beschäftigungsverhältnis und Nationalität. Gering qualifizierte Beschäftigte haben auch die geringsten Möglichkeiten zur Teilnahme. In 2003 nahmen 44 % der Personen mit Hochschulabschluss an Weiterbildung teil, Menschen ohne Berufsausbildung taten dies nur zu 11%.

  • Der drastische Abbau der Weiterbildung für die Arbeitslosen erreicht in diesem Jahr einen Negativrekord. Er geht deutlich zu Lasten der Schwächsten am Arbeitsmarkt und erzeugt Weiterbildungsarmut.

Mit anderen Worten: Wir haben in der Weiterbildung ein zweites PISA. Das System wird selbst zur Innovations- und Wachstumsbremse. Ein kurzer Blick auf den Bereich der betrieblichen Weiterbildung ist besorgniserregend. So zeigt die zweite Erhebung zur betrieblichen Weiterbildung in 25 europäischen Ländern, die 2002 von der Europäischen Kommission in 76.000 Unternehmen durchgeführt wurde, dass Deutschland sich im Vergleich zu anderen EU-Ländern gerade noch im Mittelmaß bewegt und in vielen Teilbereichen sogar auf den hinteren Plätzen zu finden ist. Das gilt quantitativ für Beteiligung der Betriebe an Weiterbildung, den Anteil der Beschäftigten, die teilnehmen, die Anzahl der Weiterbildungsstunden und die Ausgaben der Unternehmen, was konkret heißt:
  • Deutschland liegt im Untersuchungszeitraum bei den Angeboten für die betriebliche Weiterbildung nur auf dem 9. Platz von 25 EU-Staaten;

  • In fast allen EU-Ländern haben die Unternehmen im Untersuchungszeitraum ihr Engagement gesteigert und erweitert, während in deutschen Unternehmen das Gegenteil der Fall ist. In den Niederlanden z. B. erhöhte sich die Zahl der Unternehmen, die Weiterbildung anbieten, von 56 % auf 88 %.

Noch schlechter schneiden die bundesdeutschen Unternehmen bei der Intensität der betrieblichen Weiterbildung ab. Im EU-Durchschnitt absolviert ein Teilnehmer 34 Kursstunden bzw. Weiterbildungsstunden. In der Bundesrepublik Deutschland waren es lediglich 27 Stunden. Das ist der 22. Rang von 25 Staaten.

Auch unter qualitativen Gesichtspunkten fällt das Urteil mager aus, was bedeutet:
  • In 67 % der Unternehmen gibt es keine Personal- oder Qualifikationsanalysen;

  • Nur 22 % der befragten Unternehmen erstellen einen Weiterbildungsplan bzw. ein Weiterbildungsprogramm;

  • Lediglich 10 % der befragten Unternehmen haben ein spezielles Budget für die berufliche Weiterbildung ihrer Beschäftigten;

  • Bei nur 5% gibt es einen eigenständigen Arbeitsbereich „Berufliche Weiterbildung“;

  • Nur 3% der befragten Unternehmen beschäftigen Mitarbeitende, deren Aufgabenbereich ausschließlich die berufliche Weiterbildung umfasst.<7li>

Damit lautet das Fazit: Betriebliche Weiterbildung in Deutschland führt zu einer betriebsgrößenmäßigen, hierarchischen, geschlechts- und branchenspezifischen Polarisierung der Weiterbildungs- und Qualifizierungschancen der abhängig Beschäftigten.


Weitere Informationen zur Politik von ver.di zur beruflichen Weiterbildung finden Sie auf den Seiten zur Berufsbildungspolitik.

Sie können die Broschüre hier als pdf-Datei herunterladen.

Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Betriebliche Weiterbildung
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 14.04.2009

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 28.03.2024