Grundsätzliches zur Weiterbildung

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Peter Faulstich

Lernen und Widerstände

Die seit den 1960er Jahren geführte und seit den 80er Jahren verstärkte gesellschaftliche Debatte um das "lebenslange" Lernen ist vor allem deshalb ein Dauerbrenner, weil allen propagierten "Qualifizierungsoffensiven" und "neuen Lernkulturen" ein harter Befund gegenübersteht: Trotz des im globalen Wissens-Konkurrenzkampf nur mittelmäßigen Abschneidens in den internationalen Kompetenztests bleibt das deutsche, immer noch dreigliedrige Schulsystem Ordnungsvorstellungen des beginnenden 19. Jahrhunderts verhaftet, erodiert das duale Bildungswesen und die Beteiligungsquoten an Weiterbildung gehen zurück, anstatt anzusteigen. Zwischen der offiziellen Proklamation des Lernens und den faktischen Teilhabemöglichkeiten besteht eine Kluft. Institutionen und soziale Strukturen erzeugen Lernschranken und -hemmnisse.

Auch in der eigenen Erfahrung erzeugt "Lernen" zumindest ambivalente Gefühle. Einerseits kann Lernen Spaß machen und Erfolg bringen, anderseits schwingen Angst, Druck, Last, Überforderung, Fremdbestimmung und Anpassung mit. Die Institutionen des Lernens und ihr Personal erzwingen Disziplin bis hin zur Anpassung und zum Strebertum und erzeugen Repression durch Prüfen und Auslesen.

Egal ob am Lernort Schule oder Arbeitsplatz: Beim "lebenslangen Lernen" spielen keineswegs alle mit. Die Zahl der Schulschwänzer ist erheblich, die der Ausbildungsabbrecher steigt, Nicht- oder Nie-Teilnehmende an der Weiterbildung entziehen sich den Lernanforderungen. Sie unterscheiden sich von den Teilnehmern an Weiterbildung zum einen durch fehlende Ressourcen an Zeit und Geld (Belastungssyndrom – siehe dazu den Beitrag von Axel Bolder in diesem Band); zum andern aber auch dadurch, dass sie der Weiterbildung keine entscheidende Bedeutung beimessen. Sie haben keine positiven Erwartung daran, dass sich ihre Arbeits- und Lebensbedingungen nach der Lernanstrengung verbessern (Sinnlosigkeitssyndrom). Insofern zeigen sie eine berechtige Zurückhaltung, da ihnen für sich selbst Begründungen für eine Weiterbildungsteilnahme fehlen – also begründete Lernwiderstände. Sie werden dann als "Benachteiligte" oder gar als "Lernbehinderte" ausgegrenzt.

Dies wirft ein grelles Licht auf die Tatsache, dass die Lernenden letztlich selbst über eine Weiterbildungsteilnahme entscheiden und politische Initiativen, finanzielle und zeitliche Ressourcen sowie strukturelle Prämissen nur Teilhabemöglichkeiten öffnen können. Nutzen können diese nur die Lernenden selbst. Die Initiativen zu "Lernzeiten" (Faulstich 2002) und "Lerngeldern" (Faulstich/Bayer 2005) erarbeiten Positionen und entwickeln Perspektiven für die Gestaltung der Rahmenbedingungen von Weiterbildungsbeteiligung, um Lernhemmnisse und Lernschranken abzubauen. Über die drei Gestaltungsebenen, also gesetzliche, tarifliche und betriebliche Vorgaben und Vereinbarungen, hinaus hängen Lernzugänge aber letztlich ab von der Lernbereitschaft der Individuen selbst. Unterstützung durch Lernzeiten und Lerngelder reicht alleine nicht aus. Sie können die Belastung erleichtern, nicht aber die Sinnhaftigkeit des Lernens deutlich machen oder gar sichern.

Weiterbildung ist also trotz der jahrzehntelangen Debatte über "Lebenslanges Lernen" keineswegs für alle selbstverständlich oder gar bei allen beliebt. Es ist keineswegs so, dass Weiterbildungsteilnahme nur positiv besetzt ist. Wir finden in Betrieben wie in Schulen und Weiterbildungseinrichtungen eine deutliche Zurückhaltung, sodass teilweise vorhandene Lernmöglichkeiten gar nicht ausgeschöpft werden.Hinter Weiterbildungsabstinenz stehen oft Informations- und Motivationsprobleme. Diese können, wenn kein Nutzen erzielt oder sichtbar wird, berechtigt sein, aber auch auf Unkenntnis und Fehleinschätzungen der eigenen betrieblichen und beruflichen Perspektiven beruhen. Erstens geht es demnach darum, Gründe für Lernwiderstände aufzudecken, sich selbst und anderen bewusst zu machen, wo diese herkommen. Zweitens überwiegt aus gesellschaftlicher Perspektive unterm Strich ein positives Bild vom Lernen in seiner Bedeutung für individuelle Entfaltung, kulturelle Teilhabe und ökonomische Leistungsfähigkeit. Durch Lernberatung können dann Möglichkeiten unterstützt werden, bei denen Lernen und insbesondere Weiterbildung hilft, Entfaltungsmöglichkeiten und Lebensfreude zu gewinnen. Die Bedeutsamkeit des Lernens für die Lernenden selbst rückt dabei in den Mittelpunkt, die Lernenden werden ernstgenommen. Dem folgt der Ansatz einer "subjektorientierten Lernberatung" (vgl. die Beiträge von Ursula Herdt und Wolfgang Wittwer in diesem Band), der ausgeht von Erfahrungen in der Biographie, den erworbenen Kompetenzen und den Interessen der (potentiell) Lernenden selbst, diese aufnimmt in ihrer Situativität und ihnen Reflexion ermöglicht. Eine solche Beratung geht demnach grundsätzlich von den Bildungs-, und Beschäftigungsinteressen der Lernenden, ihren Erfahrungen und Kompetenzen aus (vgl. dazu den Beitrag von Karen Schober und Bernhard Jenschke in diesem Band).

Die EU hat mit Blick auf die Implementierung einer Strategie des "Lebensbegleitenden Lernens" die zentrale Bedeutung von Bildungs-, Berufs- und Beschäftigungsberatung bei der Erreichung wichtiger bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Ziele betont. Beratung soll dabei die eigenverantwortliche Gestaltung des Bildungs- und Berufsweges unterstützen.

Dies wird zunehmend auch eine gewerkschaftliche Aufgabe und ist in verschiedenen Projekten aufgenommen worden (vgl. die Beiträge von Ingrid Sehrbrock/Sonja Deffner und Thomas Habenicht/Karl-Heinz Hageni in diesem Band). Teilhabe am "lebenslangen Lernen" wird unterstützt, weil der Zugang zu Bildung positiv bewertet wird. Dies war in der Tradition der Arbeiterbewegung immer schon selbstverständlich, auch wenn darüber hinsichtlich der Zielsetzungen kontrovers diskutiert wurde. Dies gilt auch für das "lebenslange Lernen".

Kompetenzen für das eigene Leben aneignen oder "lebenslänglich" lernen?

Die Karriere des Konzepts "Lebenslanges Lernen" (LLL) ist Resultat eines Zeitbruchs (Faulstich 2003). "Lernen" ist zu einer Schlüsselkategorie einer Gesellschaft geworden, die sich im vorherrschenden Selbstverständnis über "Wandel" und "Innovation" bestimmt. Wo sich alles dynamisch, rapide und permanent verändern soll, ist Lernen angesagt.

Wenn das so ist, müssen alle gesellschaftlichen Partialsysteme, Strukturen und Prozesse immer neu und immer schneller "lernen". Lernen wird synonym mit Verändern. Eine Metaphorik vom Wandel, die besagt, dass sich die Anforderungen an Lernen und Wissen mit progressiver Dynamik ändern, ist zu einem zentralen Legitimationsmuster geworden. Der Weg zur "Wissensgesellschaft", in der Lernen allgegenwärtig, permanent und total geworden sei, wird als der "zukunftsfähige" und "nachhaltige" Entwicklungspfad ausgemalt. Die traditionelle lebenslaufbezogene Abgrenzung zwischen Lern- und Erwerbszeiten wird zunehmend fraglich. Das Dreiphasenschema der Erwerbsbiographie von Ausbildung, Einsatz und Ruhestand wird flexibilisiert. Dabei entstehen neue Formen der Verschränkung von Arbeiten und Lernen.

Für die Bildung ist eine permanente Dynamik zum Strukturprinzip geworden. "Lifelong learning" erhält biographische Kontinuität über alle Phasen des Lebens und entgrenzt sich aus den traditionellen Institutionen. Lernen verteilt sich im LLL-Konzept über die gesamte Lebensspanne, gliedert sich in kürzere Abschnitte und wird immer umfangreicher.

"LLL" ist gekennzeichnet durch große Spielräume für Ausgestaltung und Umsetzung in einer Ambivalenz von Zwang und Freiheit: Wenn auf ökonomische Anpassung hingewiesen wird, droht eine permanente Umstellungsnotwendigkeit. Dies hat die Kritik provoziert, es gehe um "lebenslängliche" Zumutung.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Zweifellos ist die Individualisierung aller Lebenswahlen eine Last. Gleichzeitig ermöglicht sie Gestaltungsoffenheit gegenüber der eigenen Lebenszeit, gelungenen Kompetenzerwerb, biographische Neuorientierung und individuelle Arbeitsplatzsicherung. Wenn "lebenslanges Lernen" lediglich Individualisierungs- und Flexibilisierungsstrategien unterworfen wird, wird es für die Lernenden eher negative Effekte haben und als Zwang erlebt. Wenn beim LLL nicht unaufhörliche Hetze angesagt sein soll, braucht es gleichzeitig individuelle Beteiligungsbereitschaft, gemeinsame Verantwortung und gesicherte Ordnung. Wenn in einem System "lebensentfaltender Bildung" Identitätsentwicklung ermöglicht wird, kann es die Gestaltungschancen der Lernenden erhöhen und ihre Zeitsouveränität vergrößern.

Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Bereitschaft, permanent weiter zu lernen, liegt darin, dass eine an den eigenen Lebensinteressen orientierte Zielrichtung fehlt. Es gibt die Erfahrung, dass die Versprechungen, nach Lernanstrengungen einen gesicherten, besserbezahlten, vielleicht mit Aufstiegschancen verbundenen Arbeitsplatz zu (er)halten, nicht eingelöst werden. Mit dem Versuch, Einstellungen und Motive der auf abhängige Arbeit Angewiesenen zu manipulieren, umzulenken, sollen diese auf den Weg einer "am Wohl der Wirtschaft" orientierten "Eigenverantwortung" geführt werden (siehe den Beitrag von Stephanie Odenwald in diesem Band).

Die Anbindung der (potenziell) Erwerbstätigen, ihrer Sozialisations- und Lernprozesse, ihres Denkens und Trachtens an die wechselnden Bedürfnisse der Unternehmen, bei denen sie beschäftigt sind oder werden wollen, kann jedoch nicht das ausschließliche Ziel einer demokratischen Bildungsgestaltung sein. Im Mittelpunkt der Lernprozesse für den Beruf und im Arbeitsleben stehen vielmehr die lernenden und arbeitenden Menschen: Sie sind die Träger der zu vermittelnden Kompetenzen, die in die Lage versetzt werden und sich einbringen, um neue Entwicklungen zu erkennen, Innovationen voranzutreiben und Gestaltungsaufgaben initiativ zu übernehmen und aktiv zu lösen. Die Teilnahme an Lernen ist dafür die Vorraussetzung.

Nachdenken über Lernen und Widerstände

"Lernen" ist für jeden von uns ein unabweisbares Thema – alltäglich und wissenschaftlich. Wenn sich nämlich – wie in der Wandelmetaphorik unterstellt – alles dauernd ändert, müssen die Einzelnen "lebenslänglich" lernen, um mitzuhalten. Aus dem durch die sich darauf richtenden divergierenden Interessenkonstellationen resultierenden Dilemma entstehen widersprüchliche Lernbegriffe. Zum einen geht es um "Anpassungslernen", wobei die Individuen einem Zwang zu immer neuem Lernen unterworfen werden; zum anderen kann es aber auch "Entfaltungslernen" geben, wenn die Personen ihre eigene Identität umfassender entwickeln und ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern. Ein solches Lernen meint dann Aneignung von Welt, bei der mögliche Verfügungserweiterung gewonnen wird.

Für dieses Szenario zwischen Macht und Freiheit, zwischen äußerem Zwang und eigenem Willen gibt es verschiedenste Lerntheorien, die auf dem wissenschaftlichen Markt angepriesen werden (vgl. zum Folgenden Faulstich/Grell/Grotlüschen 2005). Dabei thematisieren nicht nur die Erziehungs- und Bildungswissenschaften und selbstverständlich die Psychologie, Biologie und Neurophysiologie, sondern auch die Soziologie, Organisationstheorie, Betriebswirtsschaftlehre und sogar die Informatik "Lernende Systeme". Gleichzeitig wird "Lernen" inhaltsleer. Wenn sich irgendetwas verändert, wurde irgendetwas gelernt. "Lernen" wird so zu einer "Container-Kategorie", die beliebig und sehr unterschiedlich gefüllt wird. Und als "General-Metapher" hat sich Lernen abgelöst von den Subjekten: Ratten, Tauben und Waschbären lernen scheinbar genauso wie Menschen oder auch Organisationen (Senge 1990), Regionen (zuerst: Stahl/Schreiber 1994) und ganze Gesellschaften (Wiesner/Wolter 2005). Von Lernen wird bei Personen ebenso gesprochen wie bei sozialen oder technischen, organischen oder sogar physikalischen Systemen. Dieses Durcheinander legt, wenn es darum geht, sinnvoll über Lernen zu reden und Lernwiderstände zu begreifen, die Suche nach einer ordnenden Theorie, die die vielfältigen Phänomene fassbar macht, nahe.

Wenn wir über Lernen nachdenken – wobei wir immer schon auch über uns selbst nachdenken und reden –, stellen wir fest, dass der Begriff merkwürdig ambivalent ist. Einerseits ist er positiv konnotiert mit Entfaltung und Aneignung: Wir entfalten uns, wir eignen uns Wissen an, lernen lebenslang. Wobei das lebenslange Lernen schon ins Zwiespältige, sogar Negative kippt. Assoziiert wird eine "lebenslängliche" Last: "Jetzt soll ich schon wieder lernen." Lernen wird dann als Zumutung erfahren.

Insofern ist der Lernbegriff, anders als es die offizielle Lesart nahelegt, auch bei uns selbst gleichzeitig negativ besetzt. Sowohl gegenüber dem Lehrpersonal als auch gegenüber den Disziplinaranstalten des Lernens gibt es offensichtlich berechtigte Widerstände. Wenn wir an die eigene Schulzeit denken, ist mit Lernen oft die eigene Erfahrung von Unsinnigkeit und Unlust, von Druck, auch von Gewalt, von Versagen verbunden.

Wir erinnern uns vielleicht an unsere eigenen Lehrer, vielleicht aber auch daran, dass sie ganz das Gegenteil von Unmenschen waren: unterstützend, hilfreich, klug. Aber bei den Lernenden, die durch eine von Lehrtyrannen geprägte Schuldisziplin gegangen sind, gibt es offensichtlich berechtigte Lernwiderstände. Die Lehrerschelte ist vielfach einbezogen in eine Institutionenkritik, wenn man sich die gegenwärtigen Zustände in Schulen, Lehrlingsausbildung, Hochschulen oder Weiterbildungseinrichtungen vor Augen hält: Die disziplinarischen Anlagen des Lernens – deren Prototyp die Schule ist, deren Zwangscharakter sich aber zum Beispiel in "Maßnahmen" beruflicher Weiterbildung sogar noch potenziert – kontrollieren die Lernenden, indem sie diese in Zeit und Raum fixieren: Ein Gleichlauf von Lernzeiten und -geschwindigkeiten wird vorgegeben, um Ordnungen durch Dressur zu erzwingen; Schulungsräume und Trainingszentren erzeugen Klausur und Isolation, indem sie Lernen und Anwenden trennen; zwischen Unterrichtenden und Lernenden besteht eine Hierarchie durch Vorwissen und Status; Noten bezwecken Selektion. Gleichzeitig geben eifrige Dozenten als Durchhalteparole das Versprechen aus: Wir lernen für das Leben.

Für Foucault (1977) sind dies in "Überwachen und Strafen" Beispiele für "eine Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird" (ebd.: 38). Es greifen die Kunst der Verteilung, die Kontrolle der Tätigkeiten, die Organisation von Entwicklungen, die Zusammensetzung der Kräfte, die hierarchische Überwachung, die normierende Sanktion und die Prüfung (Überschriften bei Foucault 1977).

Kritik verkürzter Theorien des Lernens

Angesichts dieser radikalen Kritik institutionell und personell kontaminierter Lernverhältnisse, die in die Resignation führen könnte, ist es unabweisbar, den Begriff Lernen zu klären, um sich selbst zu verorten. Obwohl "Lernen" zur zentralen Kategorie gegenwärtiger Zeitdiagnosen im Kontext von "Lebenslangem Lernen" und "Wissensgesellschaft" geworden ist, besteht hier allerdings ein diffuser Begriffswirrwarr.

Immer wieder gibt es naturalistische Fehlschlüsse: Aus der physischen Ausstattung des Menschen wird direkt auf psychische Leistungen beim Lernen geschlossen. Die Debatte wird überschwemmt mit Befunden aus der neurophysiologischen Lernforschung. Presse und Journale sind voll von Berichten und Artikeln über das Verhältnis von Gehirn und Lernen. Es wird nach "gehirngerechtem Lernen" gefragt. "Diese Tendenz wird aber von zahlreichen Lehr-Lern-Forschern – und nicht nur von diesen – skeptisch bis sorgenvoll beurteilt. Die bisher vorliegenden Befunde der neurophysiologischen Lernforschung sind nämlich nur selten eindeutig interpretierbar" (Stern u.a. 2005: 5). Wenn überhaupt, lassen sich nur allgemeine Schlussfolgerungen ableiten, die über den individuellen psychischen Prozess beim Lernen nichts sagen. Wenn wir genauer fragen, was wir suchen oder finden im Gehirn, so sind dies physikalische oder physiologische Prozesse, wie sie mit den bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften (technisch hoch aufgerüstet: Positronen-Emissions-Tomographie, Magnetresonanztomographie, Infrarot-Spektroskopie u.a.) sichtbar dargestellt werden können. Dies liefert zweifellos faszinierende und spannende Resultate. Reflektierte Neurophysiologen wissen aber auch um die Grenze ihrer Ergebnisse: Die Psyche entzieht sich dem sezierenden Zugriff. Es gibt unhintergehbare, ungelöste Probleme:
  • die Nicht-Reduzierbarkeit psychischer Prozesse auf neurophysiologische Analysen,
  • die Unterdeterminiertheit neurophysiologischer Konstellationen bezogen auf konkrete, situative Prozesse des Lernens.
Neurophysiologische Untersuchungen beschreiben nur die Rahmenbedingungen, unter denen Lernen stattfinden kann. Lernfähigkeit ist in erster Linie ein psychisches Problem. Die körperliche Verfassung schafft nur die Voraussetzungen für Wahrnehmung, Erfahrung und Aneignung beim Lernen.

Auch wenn man einmal absieht von der Konfusion der psychischen und physischen Ebene, für die die Neurophysiologie missbraucht wird, gibt es in der dominierenden Lernpsychologie (Überblick Edelmann 2000, Seel 2000, Mielke 2001), immer noch ein Nachwirken des Behaviorismus, der menschliche Aktivitäten als beobachtbares Verhalten (behavior) betrachtet. Obwohl mit dem Kognitivismus, der interne psychische Prozesse im Bewusstsein (Kognition) einbezieht, und spätestens dem Konstruktivismus, der aktive Interpretationen der Individuen (Konstruktionen) hervorhebt, gegenüber dem Behaviorismus eine erhebliche Komplexitätssteigerung (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1995) erreicht wurde, gibt es nach wie vor eine Vorherrschaft naturwissenschaftlich orientierter Ursache-Wirkungs-Ansätze, die Instruktionsansätze und entsprechende Lernarrangements stützen. Die klassischen, in den Fachbereichen der Psychologie nach wie vor dominanten Lehrtexte über Lerntheorien sind immer noch orientiert an Definitionen etwa von Hilgard und Bower. Danach ist Lernen "Veränderung von Verhalten oder im Verhaltenspotential von Organismen in einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situationen zurückgeht" (Hilgard/Bower 1983: 31).

Wo ist der Haken dabei? In den Ohren vieler klingt diese Definition doch vernünftig.
  • Erster Kritikpunkt: Wenn alles Verändern Lernen ist, wird der Lernbegriff grenzenlos. Dann lernen nicht nur Individuen, Organismen, sondern auch Systeme, Regionen und Gesellschaften. Die ganze Welt lernt, weil sie sich verändert. Der Lernbegriff wird so inhaltsleer. Man muss also überlegen, was ändert sich eigentlich?
  • Der zweite Kritikpunkt ist, dass von Verhalten geredet wird. Verhalten ist ein von außen beobachtbares Phänomen. Man sieht, dass jemand sein Verhalten geändert hat, aber warum die Änderung eingetreten ist, können wir durch Außenbeobachtung nie feststellen. Allein die Beobachtung "Ein Mensch sitzt in einer Lehrveranstaltung" sagt nichts über die Gründe, warum er das tut. Vielleicht tut er das, um seine Freundin zu treffen, was auch sinnvoll sein kann. Durch die Außenbeobachtung von Verhalten sehen wir nur die Oberfläche.
  • Drittens wird in dem Zitat von Organismen geredet, ein Begriff, der noch nicht einmal eine Mehrzelligkeit eines Lebewesens voraussetzt. Menschliches Lernen wird gleichgesetzt mit dem Lernen von Ratten, Tauben, Waschbären, sogar von Amöben. Entfaltetes Lernen von Menschen unterscheidet sich aber von dem, was wir bei Ratten beobachten, dadurch, dass Menschen sich nicht verhalten müssen, sondern handeln können. Menschen messen ihren Aktivitäten Sinn zu; sie haben Gründe, warum sie etwas tun, und unterscheiden sich insofern deutlich von bloß reaktiven "Organismen".
Es ist verblüffend, wie auch neuere Lerntheorien, die sich als komplex und differenziert darstellen, derartig kritikwürdige Definitionen des Lernens in ihren Grundzügen weiterverwenden. Behavioristische Lerntheorien, die seit der "kognitiven Wende" als überholt gelten, gleichwohl aber, wenn man sich die Mühe macht und genau hinschaut, viele theoretische Modelle noch immer heimlich bestimmen, sind in ihrer reduzierten, auf Beobachtung und Verhalten angelegten Struktur, kaum geeignet, der Komplexität menschlichen Handelns und dem Lernen als Spezialfall des Handelns gerecht zu werden. Kognitionstheoretische Lerntheorien haben versucht, die Lücken des Behaviorismus zu füllen, und beschäftigen sich damit, wie sich Lernen im Individuum abspielt. Das Interesse gilt vorrangig den Fragen, wie Informationen aufgenommen, wie sie verarbeitet und strukturiert werden, wie Gedächtnis funktioniert und wie Problemlösestrategien entwickelt werden. Der Mensch wird als aktives Wesen gesehen. Dass er aber eingebunden ist in soziale Bezüge, dass er vor dem Hintergrund seiner (auch körperlichen) Existenz Lebensinteressen verfolgt, spielt im Rahmen kognitionstheoretischer Lernmodelle keine Rolle.

Sogar noch lerntheoretische Konzepte auf der theoretischen Basis eines "gemäßigten" Konstruktivismus (Reinmann-Rothmeier/Mandl 1995), die mittlerweile dominieren (so auch Dieter Gnahs in diesem Band), stellen zwar den Menschen und seine jeweils individuellen Konstruktionen von Welt in den Mittelpunkt des Geschehens, verharren aber nichtsdestoweniger bei einem verdeckten Instruktionismus. Die Gewichtung der Aneignungsperspektive, die Wertschätzung des Individuums und die Ablehnung einer Herstellungsperspektive macht diese Theorie in einer Zeit instrumentellen Machbarkeitswahns durchaus attraktiv als Korrektiv. Es bleibt aber eine Außensicht auf die Bedingtheit des Lernens, die dann immer raffinierte, "ermöglichende" Lernarrangements anstößt. Lernende werden nicht direkt gesteuert, sondern durch komplexe Arrangements soll Lernen ermöglicht werden.

Suche nach einer angemessenen Lerntheorie

Solche Auffassungen von Lernen werden der Anforderung an eine dem menschlichen Lernen angemessene Theorie nicht gerecht. Sie beharren auf dem Außenstandpunkt des externen Beobachters und tendieren so zu externalistischen Interpretationen des Lerngeschehens. Damit verkennen sie die grundsätzliche Freiheit des menschlichen Handelns, die entsteht, weil es niemals eine vollständige externe Determination gibt. (Bieri 2003).

Entscheidend für das Wahrnehmen, Deuten und Begreifen von Prozessen ist aber die dahinterstehende wissenschaftliche Theorie. Es gilt deshalb Anforderungen und Kriterien für eine angemessene Lerntheorie zu formulieren, die geeignet ist, eigenes Lernhandeln zu begreifen und lehrendem Handeln Orientierung zu geben (Faulstich/Grotlüschen 2003):
  • Erstens muss eine solche Lerntheorie als Handlungstheorie aufgebaut werden, wenn es darum geht, Lernen nicht kausalistisch zu instrumentalisieren, sondern sinnverstehend zu begreifen.
  • Zweitens muss sie deshalb die Offenheit und Freiheit menschlichen Handelns berücksichtigen.
  • Drittens sollte sie anschlussfähig an bildungstheoretische Diskussionen sein.
  • Viertens muss sie in ihrem Kontext ein adäquates Konzept von Lehre entwickeln.
Mit diesen Anforderungen grenzt sich eine solche Theorie, die menschliches Lernen in angemessener Weise darstellen soll, ab gegen die verschiedenen Varianten einer "Ratten-Tauben-Waschbären"-Lerntheorie. Menschen lernen anders als tierische Organismen oder auch als technische Systeme. Um zu verstehen, wie Lernwiderstände entstehen, müssen wir uns mit alltäglichen und unseren eigenen Lernerfahrungen beschäftigen. Um zu begreifen, was Handlungen, auch Lernhandlungen begründet, kommen wir nicht darum herum, eine "Subjektperspektive" einzunehmen.

Vorschlag einer Lerntheorie vom "Subjektstandpunkt"

Grundzüge einer angemessenen Lerntheorie finden wir in der "subjektwissenschaftlichen" Konzeption Klaus Holzkamps (1993), wobei es um eine Denkperspektive geht, nicht um eine – wie auch immer – "fertige" Theorie. Kern ist eine methodologische Kehre: Die aus der Sinnhaftigkeit und Wahlfreiheit menschlichen Handelns resultierende Unverfügbarkeit menschlichen Entscheidens, Denkens und Handelns wird durch den Übergang vom – wie Holzkamp es nennt – "Bedingtheits-" zum "Begründungsdiskurs" vollzogen. Er vollzieht eine entscheidende Wende in der grundlegenden Denkfigur: Er redet über Lernen nicht als durch äußere Reize verursacht, also bedingt, sondern er fragt, warum Menschen lernen, also wie dies begründet ist.

Dahinter steht die Vorstellung, dass jedes "Außen" nur wichtig wird, indem es "innen" bedacht und bewertet wird. Lernbegründungen und reziprok dazu Lernwiderstände lassen sich rückbeziehen auf die Wünsche und Interessen der Personen. Wir verstehen diese, weil und insofern wir uns selbst verstehen. Dies meint nicht, dass die Interessen "kognitiv expliziert", vom Außenstandpunkt "rational" sind. Kritik vorwegnehmend schränkt Holzkamp ein: "Von uns wird lediglich angenommen, dass ich von meinem Standpunkt aus nicht begründet gegen meine eigenen Interessen (wie ich sie wahrnehme) handeln kann" (1993: 26).

Lernen ist im Begründungsdiskurs eben nicht von außen zu erklären, sondern nur über die inneren Gründe der Lernenden selbst zu verstehen und zu begreifen. Der "Begründungsdiskurs" ist notwendig immer "erste Person", impliziert also einen, wie Holzkamp es formelhaft nennt, "Subjektstandpunkt". Interessen sind, so die Übersetzung des schwierigen Begriffs, immer gebunden an Subjekte: Gründe für mein interessengeleitetes Handeln kann immer nur jeweils ich haben, aber niemals jemand anders.

Oder anders herum: Wenn ich von den Gründen eines anderen rede, dann rede ich immer von seinen Gründen für sein Handeln, nehme daher also seinen Subjektstandpunkt ein. Ich versuche ihn zu verstehen bzw. zu begreifen.

Der "Subjektstandpunkt" schließt auch ein, dass der reale Lebensprozess die zentralen Dimensionen des Weltzugangs umfasst: Wollen, Fühlen und Vorstellen. Daraus folgt eine ursprüngliche, kognitiv-volutiv-affektive Form des Verstehens von Welt – innerer und äußerer. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die lernenden "Subjekte" nicht nur Denkleistungen aneignen, sondern immer rückgebunden sind in ihre eigene Körperlichkeit. Weltzugänge lösen sich nicht auf in Denkvorgänge, sondern sind unhintergehbar bezogen auf die eigene Körperlichkeit. Alles Lernen verläuft vor dem Hintergrund eigener leiblicher Erfahrungen.

Klären einiger Grundbegrifflichkeiten über Lernen

Was heißt das nun für das Lernen? Klaus Holzkamp hat dies bei der kategorialen Explikation des Lernsubjekts auf seine standortspezifischen Bestimmungen und lebenspraktischen Bedeutungszusammenhänge (1993: 252) mit "körperlicher Situiertheit" gefasst. Gemeint ist "nämlich der Umstand, dass mein Standort und meine Perspektive an jeweils meinen sinnlich-stofflichen Körper gebunden sind" (1993: 253).

Die Situativität der Körperlichkeit ist durch Lernen nicht aufhebbar. Vielmehr ergeben sich Behinderungen, Grenzen der Verfügung, Undurchschaubarkeiten und Widerständigkeiten. Aber auch diese sind zu verstehen, weil Fühlen, Vorstellen und Wollen rückgebunden sind an die je eigene "Situiertheit": körperliche, sprachliche und biografische (Holzkamp 1939: 252ff.).

Lernen ist in einem solchen Ansatz Aneignung von Wissen und Können durch die Personen selbst. Systematisch kann man dann Lernen unterscheiden in "Mitlernen" im Zusammenhang anderer Tätigkeiten wie Arbeiten oder Spielen und in Lernen als spezifische Form menschlichen Handelns, als "intentionales Lernen".

Mit intentionalem Lernen verbinden die Lernenden das Ziel, den im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten und Fragen beizukommen und zu lösen. Lernen stellt so betrachtet eine besondere Form der Handlung dar, die darauf ausgerichtet ist, Weltverfügung zu erweitern. Es geht dann um die Irritation von Routinen. Lernen wird angestoßen von Fragen, nicht von fertigen Antworten, von Problemen, nicht von Resultaten. Lernen ist grundsätzlich ergebnisoffen und wahlfrei.

Lernanlässe entstehen aus einer Diskrepanzerfahrung zwischen Intentionalität und Kompetenz. Man kann nicht so, wie man will. Aus einer Handlungsproblematik wird dann intentional eine Lernhandlung ausgegliedert; es wird eine Lernschleife eingebaut, um im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten beizukommen. Daraus entstehen im jeweiligen Kontext Lernthemen, die sich aber nicht auf Lerngegenstände an und für sich, sondern auf ihre jeweilige Bedeutung für verfügungserweiterndes Lernen der Individuum beziehen. Bedeutungshaftigkeit ist der derjenige Aspekt von Welt, durch den diese für das Individuum und seine Lebensinteressen relevant und damit als Lernthematik zugänglich wird. In Bedeutungskontexten werden Wissensstrukturen und Kompetenzen aufgebaut, die eine erweiterte Weltverfügung ermöglichen.

Dies setzt eine vorausschauende Perspektive voraus. Der Lernende meint und hofft ausgehend von seinen Interessen, dass nach gelungenem Lernen seine Verfügung über den Gegenstand erhöht sein wird. Verfügungserweiterung bezeichnet hier eine aus der Sicht des Subjekts gelingende Situationsinterpretation, die neue Handlungsoptionen erschließt.

Welche der ihm in derartigen "Möglichkeitsbeziehungen" als Handlungsalternativen gegebenen Bedeutungsaspekte das Individuum im Interessenzusammenhang seiner eigenen Lebenspraxis tatsächlich in Handlungen umsetzt, hängt von den dafür sprechenden Gründen ab (Holzkamp 1995: 838). Bedeutungen von Weltgegebenheiten stellen für die Handelnden gesellschaftlich gegebene Möglichkeiten dar, zu denen sie handeln können: Sie können sie ergreifen, sie können sich ihnen offen verweigern, sie strategisch unterlaufen, sie nur teilweise umsetzen oder aber auch verändern. Es gibt vielfältige Gründe, nicht zu lernen: berechtigte Lernwiderstände.

Einordnen von Lernwiderständen: Hemmnissen und Schranken, sowie insbesondere: Gründen

Wenn man fragt, warum wir lernen, gibt es zwei Alternativen: Entweder ich treffe auf ein Problem und will es von mir aus lösen, das heißt ich will. Oder aber es wird von außen – z.B. in einem Weiterbildungsprogramm – eine Aufgabe gestellt, d.h. ich soll. Damit kann ich auch wieder in doppelter Weise umgehen: Entweder ich mache diese Aufgabe zu meinem eigenen Problem, d.h. ich will; oder ich lehne diese Aufgabe ab, beuge mich ihr aber, d.h. ich muss. Holzkamp kodiert diese Möglichkeiten mit den Begriffen "defensiv" oder "expansiv", wobei dies keine Pole, sondern Freiheitsgrade des Umgangs mit Lernproblematiken darstellt (siehe den Beitrag von Anke Grotlüschen in diesem Band).

Auf Seiten der Person bestehen also, wenn Probleme auftauchen, Gründe, zu lernen oder nicht zu lernen. Die Gründe sind mit biographischen Erfahrungen, Erwartungen, situierten Einbindungen und Interessen verbunden. Diese sind entstanden aufgrund von Hemmnissen, ausgehend von den sozialen Milieus, in denen sich die Individuen entwickelt haben (siehe dazu den Beitrag von Helmut Bremer in diesem Band), und sie sind bezogen auf Schranken, die durch den Kontext der Institutionen des Lehrens und Lernens entstehen (Dieter Gnahs in diesem Band). Hemmnisse und Schranken werden aber erst wirksam durch ihre Erfahrung, Deutung und Bewertung durch die mit Gründen handelnden Personen.

Wenn wir nach gelingendem Lernen fragen, müssen wir die Illusion einer herstellbaren optimalen Lernsituation aufgeben. In den Institutionen und beim Personal der Weiterbildung ist die Klage über Widerständigkeit, Faulheit und Widerborstigkeit der Lernenden weitverbreitet. Es wird dann nach Rezepten gefragt, nach Methoden, um solche Probleme instrumentell zu lösen. Dies ist eine Sackgasse, weil Institutionen und Personal sich in technokratische Herstellungsillusionen verrennen (siehe dazu den Beitrag von Petra Grell in diesem Band).

Wir wechseln vielmehr die Perspektive und fragen nach Lernwiderständen, die von den Lernenden selbst reflektiert werden können. Das Lernen Erwachsener ist immer schon Anschlusslernen. Erwachsene haben in ihrer Biographie Lebens- und Lernerfahrungen aufgehäuft, die neues Lernen befördern oder behindern. Es gilt also den Blick zu lenken auf Weiterbildungsabstinenz, Motivationsverluste, Lernhemmnisse und -schranken, Spaltungslinien und Hürden, kurz auf Widerstände, die keineswegs nur durch individuelle Dispositionen, sondern ebenso durch die bestehenden Strukturen der Lebenswelt, insbesondere des Beschäftigungs- wie des Weiterbildungssystems, erzeugt werden. Diese Erfahrungen, die jede Person in Auseinandersetzung mit dem ihr zugänglichen Ausschnitt der Lebenswelt macht, sind dabei rückgebunden an die sozialen Kontexte von Milieu und Gender. Daraus resultieren Lernhemmnisse durch die sozialen Strukturen und Lernschranken durch die Restriktionen der Institutionen.

Wichtig für die Klärung von Lernwiderständen ist, dass Hemmnisse und Schranken nicht direkt verursachend wirken, sondern dass sie erst "intern" bedeutsam werden, indem sie von den Lernenden erfahren werden. Die Person mit ihren Gründen, (nicht) zu lernen, trifft auf ein Lernangebot. Dies stellt Lernaufgaben, die sich beziehen lassen auf dahinterstehende Lebensinteressen – oder eben nicht. Entscheidend für die Lernerfolge ist die Art und Weise, wie die Lernaufgaben von den Lernenden selbst als Lernproblematiken aufgenommen werden. Diese unterschiedlichen Umgangsweisen können gefasst werden im Spannungsverhältnis von "expansivem" und "defensivem" Lernen.

Expansive Lernbegründungen zielen auf eine Erweiterung eigener Weltverfügung; der Lernende nimmt in diesem Fall Lernanstrengungen auf sich, um für sich selbst Aufschluss über gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge zu gewinnen und erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu erreichen, die ihm bisher nicht gegeben sind und mit denen er gleichzeitig eine Entfaltung seiner Lebensqualität antizipiert.

Defensive Lernbegründungen zielen lediglich auf Abwendung von Beeinträchtigung und Bedrohung (Holzkamp 1993: 190) und im Ergebnis auf Überwindung der primären Handlungsproblematik und nicht auf die Lösung einer Lernproblematik als erweiterte gesellschaftliche Teilhabe (ebd.: 193).

Für die Untersuchung von Lernwiderständen ist wichtig, nicht in Ursache-Wirkungs-Modellen zu denken. Wenn nach Gründen gefragt wird, geht es darum, ob die Personen Lernmöglichkeiten in ihrem Lebenskontext als sinnvoll einschätzen und auf ihre Lebensinteressen beziehen. Lernhemmnisse und Lernschranken bilden den Rahmen, der aber erst vermittelt durch die individuelle Wahrnehmung, Deutung und Bewertung als Lerngründe wirksam wird.

Dies befreit auch von einem "Lehr-Lern-Kurzschluss". Ein instrumenteller Zugriff in einer Herstellungsperspektive erzwingt defensives Lernen. Prämisse "expansiven Lernens" ist die Bedeutsamkeit des Gegenstandes für die Lernenden selbst.

Lernwiderstände durch fehlende Bedeutsamkeit

Sowohl gegenüber dem Lehrpersonal – Lehrern, Ausbildern, Dozenten – als auch gegenüber den Disziplinaranstalten des Lernens – Schule, Lehrbetrieb, Weiterbildungsträger – gibt es ganz offensichtliche und oft berechtigte Widerstände. In Lernsituationen treten unterschiedliche Widerstandstaktiken zu Tage: Blockieren, Nicht-Verstehen, Müdigkeit, Initiativlosigkeit, Orientierungsverlust, Lernvermeidungsstrategien, Ablehnung der Thematik, Ignorieren oder aber Provozieren der Dozenten, Abwerten der Lehrenden, Missverstehen, Klagen über Lernsituation, inszenierte Regelverstöße, Ablenken anderer Lernenden, Umdefinieren der Lernsituation, mutwilliges oder achtloses Beschädigen von Inventar, Verbreiten permanenter Unruhe, Zuspätkommen, Pausenverlängern, Fehlzeiten, Abbruch.

Diese Phänomene des Widerstands prägen über weite Strecken die Normalität in Lehranstalten. In der eigenen Schulzeit ist mit Lernen oft die Erfahrung von Unsinnigkeit, Druck, Versagen und auch von Gewalt verbunden. Es entsteht Lernmüdigkeit, die bildungspolitisch als mangelnde "Lernfähigkeit" von "Benachteiligten" etikettiert wird. Individuelle Lernerfahrungen setzen sich strukturell fort. Lernen ist immer schon Anschlusslernen. In Verlauf der Biographie werden Lebens- und Lernerfahrungen aufgehäuft, die neues Lernen befördern oder behindern.

Lernvermitteln

Personen mit ihren Gründen zu lernen oder eben nicht zu lernen treffen auf Lernangebote in Bildungseinrichtungen. Es gibt historisch unhintergehbare Lernaufgaben, die sich auf dahinterstehende gesellschaftlich jeweils bestimmte Probleme beziehen lassen. Lerninstitutionen sind Vermittlungsagenturen kulturellen Wissens.

Entscheidend für mögliche Lernerfolge ist die Art und Weise, wie die angebotenen Thematiken von den Lernenden selbst aufgenommen werden. Dies kann begrifflich gefasst werden im Spannungsverhältnis von "expansivem" und "defensivem" Lernen, Entfaltung oder Zumutung. Nicht vorrangig Verfahren und Lernorte, sondern vor allem Inhalte sind jedoch als Gründe des Lernen wichtig (siehe den Beitrag von Anke Grotlüschen in diesem Band). Lernen ist immer bezogen auf eine Thematik. Also kommt es darauf an, wie diese mit der Intentionalität der Lernenden vermittelt ist. Ohne Selbsttätigkeit findet Lernen nicht statt. Deshalb ist für "expansives Lernen" die aktive Gestaltung des eigenen Lernens durch einen hohen Grad an Selbstbestimmung erforderlich. Es geht bei der Selbstbestimmtheit beim Lernen letztlich um Mündigkeit – ein Begriff, den man in seiner Resistenz gegenüber modischer Einfärbung kaum noch zu nennen wagt, der aber in diesem Kontext wieder stärker in den Vordergrund rückt – ebenso wie die Erkenntnis, dass Bildung nicht herstellbar ist.

Nichtsdestoweniger ist es Aufgabe der Lehrenden, die Lernenden zu unterstützen, den Prozess der Aneinung durch Vermittlung der Thematik mit der Intentionalität anzustoßen, zu erleichtern und zu begleiten. Dabei geht es nicht um Belehren, sondern um Unterrichten und Beraten (Faulstich/Zeuner 1999).

Resultat ist also, dass ohne Bedeutsamkeit für die Lernenden selbst Lernen eingezwängt ist in die Disziplin vorgegebener Ordnungen oder Anforderungen sowie kontrollierender Prüfungen, die defensives Lernen erzwingen, weil ihr Sinn fremd und somit äußerlich bleibt: Lernziele sind nicht transparent, Lerninhalte nicht nachvollziehbar und Prüfungsverfahren kontrollierend. In der Folge entziehen sich die Lernenden bzw. reagieren mit Lernwiderständen. Bei den verschiedenen Gruppen, die als so genannte Benachteiligte gefasst werden, kumulieren Lernschwierigkeiten. Die Betroffenen dürfen aber nicht ausgegrenzt, sondern müssen besonders gefördert werden.

Ansätze "subjektorientierter" Lernberatung

Sie sind einzubeziehen in Lehr-Lernstrategien, die ausgehen von den Interessen der Lernenden. Diese müssen in Lernprozesse eingebracht werden können. Lerninteressen klären sich allerdings erst im Abgleich zwischen individuell vorhandenen Motivationen und gesellschaftlich relevanten Problematiken. Dies für die Lernenden selbst offen zu legen, bedarf oft der Unterstützung. Angesichts sich ausweitender und zunehmender Unübersichtlichkeit wird Lernberatung immer wichtiger. Lernberatung verfolgt dabei unterschiedliche Reichweiten:
  • Informationsaspekte: das Bereitstellen von Informationen über Träger, Einrichtungen, Programme und Kurse.
  • Adressatenzentrierte Aspekte: Einlassen auf die Situation der Lernenden, Beziehen auf reale Konstellationen im Lebenszusammenhang z.B. von Frauen oder von Arbeitslosen.
  • Themenorientierte Aspekte: Gegenstandsbezogene Klärung der Interessen im Kontext der Rahmenbedingungen und der Relevanz der Aufgaben.
Kern der Beratung ist dann, gemeinsam Lernmotivationen und -strategien zu entwickeln, um individuelle Biographien durch Lernen zu gestalten. Dies geht aus von den Lebensinteressen der Lernenden (siehe die Beiträge von Ursula Herdt und Wolfgang Wittwer in diesem Band).

Bezogen auf die Notwendigkeit solcher Beratung besteht hoher Konsens. Sogar im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung wird dies benannt: "Wir werden die Vielzahl der bestehenden Weiterbildungsangebote durch die Optimierung der Bildungsberatung transparenter machen" (Koalitionsvertrag CDU, CSU, SPD – 11.11.2005). Von allen Parteien, von Arbeitgebern und Gewerkschaften wird Bildungs-, Berufs- und Weiterbildungsberatung ein hoher Stellenwert beim "Lebenslangen Lernen" eingeräumt. Angesichts gestiegener Offenheit der Lernwege wachsen die Entscheidungsspielräume der Lernenden – bis hin zur Überforderung (siehe den Beitrag von Stephanie Odenwald in diesem Band). Beratung scheint ein geeigneter Ansatz, um Selbstverantwortung zu steigern. Deutlich wird, dass dahinter divergierende Vorstellungen vom Verhältnis von Individuum und Gesellschaft stehen. Eine "subjektorientierte" Beratung ist kein individualistisches Konzept. Für die Gewerkschaften sind die Aufgaben der Bildungs-, Berufs- und Weiterbildungsberatung Teil eines erweiterten Leistungsspektrums. Angesichts der wachsenden Bedeutung einer Teilhabe am Lernen, wird dies sowohl von Seiten der Organisation als auch der Betriebsräte zunehmend zum Thema (siehe dazu Ingrid Sehrbrock/Sonja Deffner und Thomas Habenicht/Karl-Heinz Hageni in diesem Band).

Perspektiven expansiven Lernens

Auch wenn grundsätzlich immer Lernfähigkeit unterstellt werden kann, ist nicht zu leugnen, dass für bestimmte Lernende und konkrete Lernanforderungen Probleme und Schwierigkeiten entstehen können. Gleichzeitig wird deutlich, dass ein passives "pipeline model" eines Einfüllens von Wissen in leere Köpfe abwegig ist. Es ist von Anfang an klar, dass Lernende in vielfältigen Kontexten stehen, Situationen unterschiedlich wahrnehmen und in ihrer Biographie eigene Vergangenheit verarbeiten.

Lernen kommt nicht aus ohne Rückbezug auf Lebens-, besonders auf Lernerfahrungen aus Kindheit, Schule, Arbeitsplatz, Familie usw. Es ist immer Anschluss- und Deutungslernen. So gibt es zum einen eine Lernmüdigkeit, die aus negativen Vorerfahrungen resultiert und verarbeitet werden muss. Zum anderen entstehen Lernschwierigkeiten, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernbemühungen und -anstrengungen nicht nachvollzogen wird. Als "defensives Lernen" wird "lebenslanges Lernen" zum äußeren Zwang. Es wird als Druck wahrgenommen, permanent, also "lebenslänglich", externen Anforderungen hinterher zu hetzen. Damit wird Lernen zur Entmündigung. Die Chance von Entfaltung wird kaum noch erfahrbar. Im "selbstbestimmten Lernen" könnte sie wieder aufscheinen und expansives Lernen ermöglichen.

Bei der Auseinandersetzung mit Lernwiderständen geht es also nicht um die Beseitigung eines lästigen Übels, sondern um die Klärung der berechtigten Gründe, nicht zu lernen. Wenn man die Lernenden ernst nimmt, muss man ihnen zugestehen, dass sie aus ihrer Sicht vernünftig handeln. Ohne erwartbare Lernerfolge ist Lernaufwand sinnlos. Erst wenn die Bedeutsamkeit von Lernanstrengungen deutlich wird, greifen lernförderliche Rahmenbedingungen, wie sie durch die Partizipation der Lernenden gestaltet und durch Lernzeiten und Lerngelder gesichert werden müssen.

Literatur
Bieri, Peter (2003): Das Handwerk der Freiheit – Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M.Edelmann, Walter (2000): Lernpsychologie. 6, vollständig überarbeitete Aufl., WeinheimFaulstich, Peter (Hrsg.) (2002): Lernzeiten – Für ein Recht auf Weiterbildung, HamburgFaulstich, Peter (2003): Weiterbildung. Begründungen lebensentfaltender Bildung, MünchenFaulstich, Peter/Bayer, Mechthild (Hrsg.) (2005): Lerngelder – Für öffentliche Verantwortung in der Weiterbildung. HamburgFaulstich, Peter/Grell, Petra (2003): Lernwiderstände aufdecken – Selbstbestimmtes Lernen stärken, BonnFaulstich, Peter/Grell, Petra/Grotlüschen, Anke (2005): Lernen in der betrieblichen Weiterbildung, StuttgartFaulstich, Peter/Grotlüschen, Anke (2003): Lerntheorie aneignen und vermitteln, in: Dehnbostel, P. u.a. (Hrsg.): Perspektiven moderner Berufsbildung, Bielefeld, S. 151-165Faulstich, Peter/Ludwig, Joachim (Hrsg.) (2004): Expansives Lernen, BaltmannsweilerFaulstich, Peter/Zeuner, Christine (1999): Erwachsenenbildung, WeinheimFaulstich, Peter u.a. (Hrsg.) (2002): Praxishandbuch selbstbestimmtes Lernen, WeinheimFoucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.Grell, Petra (2003): Forschende Lernwerkstatt, BonnHilgard, Ernest R./Bower, Gordon (1983): Theorien des Lernens, 5. Aufl., StuttgartHolzkamp, Klaus (1993): Lernen. Frankfurt a.M.Holzkamp, Klaus (1995): Alltägliche Lebensführung, in: Das Argument 212, H.6, S. 817-845Holzkamp, Klaus (1996): Texte aus dem Nachlass, Forum Kritische Psychologie, HamburgMielke, Rosemarie (2001): Psychologie des Lernens, StuttgartReinmann-Rothmeier, Gabriele/Mandl, Heinz (1995): Lernen als Erwachsener, in: Grundlagen der Weiterbildung, S. 193-195Seel, Norbert M. (2000): Psychologie des Lernens, MünchenSenge, Peter M. (1990): Fifth discipline: The Art and Practice of Learning Organisation, New YorkStahl, Thomas/Schreiber, R. (1994): Auf dem Weg zur lernenden Region, BerlinStern, Elsbeth, u.a. (2005): Lehr-Lern-Forschung und Neurowissenschaften: Erwartungen, Befunde und Forschungsperspektiven, Bonn/BerlinWiesner, Gisela/Wolter, Andrä (Hrsg.) (2005): Die lernende Gesellschaft, Weinheim

Der Beitrag ist entnommen aus

Peter Faulstich/Mechthild Bayer (Hrsg.)
Lernwiderstände
Anlässe für Vermittlung und Beratung
Eine Initiative von ver.di, IG Metall und GEW
Es ist erschienen im VSA-Verlag und kostet 12.80 Euro.

Wir danken dem VSA-Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Artikels. Die Rechte an dem Text besitzt der VSA-Verlag.

Weitere Informationen zum Buch erhalten Sie auf der Homepage des VSA-Verlages.

Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 11.07.2006