Nachrichten-Archiv

Zurück zur Übersicht

Tarifvertragliche Regelungen von Weiterbildung: Konsens, Kontroversen, Entwicklungen

Paradigmenwechsel in der Weiterbildung? Entwicklungstrends in der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung

Die Botschaft, dass Weiterbildung in einer immer stärker wissensbasierten Ökonomie eine notwendige Bedingung zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer ist, gehört seit langem zu den immer wiederkehrenden Bestandteilen der meisten Artikel und Erklärung zu diesem Thema. Es gibt kaum jemanden, der Nutzen und Notwendigkeit von Weiterbildung grundsätzlich in Frage stellt. Nicht nur in der politischen Arena, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs ist die Annahme, dass Weiterbildung einen positiven Einfluss auf die Produktivität der Arbeitskraft und damit auf den Unternehmenserfolg hat, ein Basiskonstrukt. Nahezu alle Studien mit konventionellem Untersuchungsdesign stellen einen positiven Effekt von betrieblichen Trainingsmaßnahmen auf den Unternehmenserfolg fest (Holzer et al. 1993; Bartel 1994; Bishop 1994; Bassi 1995; Ballot/Aymaz 1996; Kazimaki/Ottersten et al. 1996). Analoges gilt für den Zusammenhang zwischen individuellen Weiterbildungsaktivitäten, Beschäftigungssicherheit und Karrierechancen (Booth 1991; Lynch 1992; Backes-Gellner/Schmidtke 2001). Neuere Untersuchungen gießen etwas Wasser in den Wein. So kommen etwa Barett und O’Conell (1999) zu dem Ergebnis, dass lediglich Weiterbildung, deren Inhalte transferierbar und unternehmensübergreifend anwendbar sind, positive Effekte hat. Auch die Untersuchung von Bellmann und Büschel (2001: 85) legt den Schluss nahe, "dass Weiterbildung per se keinen signifikant positiven Effekt auf den Unternehmenserfolg ausübt. Vielmehr sind es Betriebe mit einer ganz bestimmten Unternehmenskultur, für die betriebliche Weiterbildung einen offenbar wichtigen, aber gleichzeitig eben integralen Bestandteil der Produktionsstruktur darstellt". Andere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass auch der individuelle Ertrag je nach Beschäftigtengruppe und Kontextbedingungen variiert (Büchel/Pannenberger 2004).

Trotz solcher Differenzierungen, die für die Ausgestaltung beruflicher und betrieblicher Weiterbildung von Bedeutung sind, besteht breiter Konsens in der Grundbotschaft: Gesellschaften, die Wissen nicht in der geforderten Qualität, Menge und Zusammensetzung bereitstellen können, werden ihren Wohlstand einbüßen; Unternehmen, die über kein ausreichend qualifiziertes und kompetentes Personal verfügen, werden ihre Marktposition nicht halten können; und Individuen, die sich nicht qualifizieren und ständig weiterbilden, werden Beschäftigungs- und Wohlstandsrisiken hinnehmen müssen. Diesem "Bedrohungsszenario" wird mitunter ein etwas einladender klingendes "Entwicklungsszenario" hinzugefügt. Weiterbildung, so wird dann ergänzt, sei nicht nur wichtig, um ökonomische Einbrüche und individuelle Rückschläge zu vermeiden, sondern auch, um Wachstumspotenziale, seien sie persönlicher oder betrieblicher Art, zu erkennen, zu nutzen und auszubauen. Beides lässt sich ausschmücken und beides findet breite Zustimmung.

Diese breite Übereinstimmung im Grundsatz täuscht allerdings leicht darüber hinweg, dass die mit beruflicher Weiterbildung verfolgten Ziele sehr unterschiedlich sind (Faulstich 1998: 106ff.). Aus der Warte der Arbeitgeber handelt es sich um Investitionen, die sich lohnen müssen. Ihr Interesse ist darauf gerichtet, den Mitteleinsatz möglichst gering zu halten, Fehlallokationen zu verhindern, das Verhältnis von Input und Output zu optimieren, den Nutzen des Mitteleinsatzes kalkulierbar zu machen und die Kontrolle über den Ressourceneinsatz ebenso zu behalten wie über die Auswahl der Personen, denen die Ressourcen zufließen sollen. Aus der Warte der Arbeitnehmer ist Weiterbildung zwar auch eine Investition, die Nutzen bringen soll, allerdings einen Nutzen, der sich daran bemisst, ob hierdurch ihre aktuelle und künftige Beschäftigungsfähigkeit verbessert wird, sich ihre Einkommens- und beruflichen Entwicklungschancen verbessern, sie anspruchsvollere, ihren Fähigkeit entsprechende Tätigkeiten und Aufgaben übertragen bekommen und sie ihre Potenziale innerhalb und außerhalb der Arbeit besser entfalten können. Auch sie wissen, dass hierzu der Einsatz von Ressourcen nötig ist. Neben dem Interesse und der Motivation sind es vor allem aber auch Zeit und Geld, knappe Güter, die Gegenstand von Verteilungskonflikten sind. Des Weiteren muss Aussicht darauf bestehen, dass mit den Investitionen die intendierten Ziele auch erreicht werden können. Weiterbildung ist somit keineswegs ein Feld, in dem vormals gegnerische Gruppen nun aufgrund der Einsicht in die Notwendigkeit einhellig und im Konsens eine qualifikationsorientierte Strategie verfolgen, sondern auch hier gibt es unterschiedliche Motivlagen und Interessen.

Divergenzen gibt es auch hinsichtlich der Einschätzung und Konsequenzen der Trends in der beruflichen Weiterbildung und der Begrifflichkeiten, mit denen sie beschrieben werden sollen. Man streitet sich, ob angemessener von Kompetenzerwerb, Lernkulturentwicklung, Lebenslangem Lernen oder schlicht von Weiterbildung gesprochen werden sollte. Es gibt Kontroversen, welche Bedeutung organisiertem und formalisiertem, non-formalisiertem und informellem Lernen zukommt, oder auch darüber, ob arbeitsintegriertes Lernen alter Wein in neuen Schläuchen oder eine Neuentdeckung von höchster bildungspolitischer Bedeutung ist.

Baethge und Baethge-Kinsky (2004) haben die unterschiedlichen Einzelbefunde in einen Zusammenhang mit verschiedenen Stadien der Gesellschaftsformation, vor allem der Arbeitsorganisation, gestellt. Die Organisation und Verfasstheit von Weiterbildung, so ihre These, ist eng verflochten mit dem Übergang von der fordistischen zur postfordistischen Produktionsweise, die wiederum mit der Ablösung der berufs- und funktionsbezogenen und der Hinwendung zu einer prozessorientierten Arbeitsorganisation verbunden ist. Eine analoge Bewegung wird für die Weiterbildung diagnostiziert. Auch sie sei im Begriff, sich von einer funktionalen, an Beruf und Beruflichkeit orientierten Weiterbildung zu einer prozessorientierten zu verändern, bei der sich "die Zuordnung von beruflichen Qualifikationen zu Arbeitsfunktionen teils dynamisiert, teils ganz auflöst" (Baethge et al. 2003: 10). Es bilde sich ein neuer Typus von Weiterbildung heraus, dessen Charakteristika in drei Punkten zusammengefasst werden:

1. Neue Steuerungsanforderungen, da der Weiterbildungsbedarf angesichts der rasanten ökonomischen Veränderungen immer schwerer vorhersehbar sei, damit Gefahr laufe, "chronisch zu spät zu kommen", und mit massiven Streuverlusten verbunden sei (Staudt/Kriegsmann 1999).

2. Neue Kompetenzprofile, die stärker auf Problemlösung, Flexibilität, Selbständigkeit, Selbstorganisationsfähigkeit und Koordinierungs- sowie auf Kommunikationsfähigkeit abzielen. Die Lerninhalte von beruflicher Weiterbildung dehnten sich somit über rein fachbezogene Themen aus hin zu einem verstärkten Einbezug von kommunikativen und selbstreflexiven Kompetenzen.

3. Neue Lernarrangements, die enger an die situativen Bedingungen und Bedürfnisse ausgerichtet seien und arbeitsintegriertes Lernen stärker einbezögen. Die Pole "Arbeit" und "Lernen" lösten sich auf, selbstorganisiertes Lernen würde unter Rückgriff auf neue Medien forciert, informelles Lernen gewänne gegenüber formalisiertem an Bedeutung. Zudem ginge der Trend von einer angebots- zu einer stärker nachfrageorientierten Weiterbildungspraxis (Baethge et al. 2003: 10f.; Baethge/Schiermann 1998).

So inspirierend die Einbettung von Weiterbildung in ein gesellschaftsstrukturelles und arbeitspolitisches Entwicklungsmodell und die Thesen über den weiteren Verlauf der Entwicklung sind, so zweifelhaft bleibt, ob für den neuen Typus von Weiterbildung, wie er beschrieben ist, ausreichend empirische Evidenz besteht, um sagen zu können, wohin die Reise wirklich geht. Für die neuen Trends lassen sich, wie Baethge et al. selbst konzedieren, bisher nur teilweise, für manche keine empirischen Belege finden. Weder besteht Klarheit über die tatsächliche Bedeutung der verschiedenen Lernformen für die Kompetenz- und Qualifikationsvermittlung, noch lässt sich der Bedeutungsgewinn informellen Lernens empirisch belegen. Kodifiziertem und in formalisierter Form erworbenem Wissen kommt im Innovationsprozess auch weiterhin eine zentrale Rolle zu (Bosch 2000; Faust/Holms 2001). Auch über den Umfang und die Folgen der Integration von Arbeit und Lernen besteht alles andere als Einigkeit. Dass die Lernförderlichkeit von Arbeit die zentrale Größe zur Stabilisierung und Entwicklung der Kompetenz zu Lebenslangem Lernen ist, genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als eine qualifizierte Erstausbildung und der Sozialisationshintergrund – diese Erkenntnis wurde durch die Untersuchung von Baethge und Baethge-Kinsky (2004) nachhaltig unterstrichen. Der andere Befund ist jedoch der, dass die arbeitspolitische Entwicklung keineswegs durchgängig in Richtung einer Zunahme lernförderlicher Arbeit weist. Es gibt diesbezüglich sehr unterschiedliche, ja entgegen gesetzte Entwicklungen (Bosch 2001; Schumann 2003; Sperling/Kuhlmann 2004). Vor allem in den Montagebereichen, aber nicht nur dort, erleben wir seit mehreren Jahren eine Re-Taylorisierung und Re-Standardisierung der Arbeit. Die Takte werden kürzer, die Dispositions- und Handlungsspielräume werden kleiner, die Lernförderlichkeit von Arbeit nimmt ab. Damit ist das Konzept arbeitsintegrierten Lernens nicht obsolet, allerdings wird die Hoffnung gedämpft, mit der (Wieder-)Entdeckung der Relevanz lernförderlicher Arbeit für die Stabilisierung der Lernmotivation und des Lernverhaltens wäre das Wesentliche bereits getan. Das liegt, so ist zu fürchten, noch vor uns.

Streit um die Regulierungsnotwendigkeit von Weiterbildung

Innerhalb der Gilde der Weiterbildungsforscher gibt es somit mannigfaltige Kontroversen über die angemessenen Begriffe, die Trends und die Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollen. Höchst strittig, und das nicht nur in der Wissenschaft, ist auch die Frage, ob und wie Weiterbildung reguliert werden soll und ob Tarifverträge ein taugliches Instrument sind, Impulse für die Entwicklung einer zukunftsorientierten betrieblichen Lern- bzw. Weiterbildungskultur zu liefern und bestehende Defizite zu korrigieren. Geführt wird diese Debatte hauptsächlich auf der politischen Bühne und zwischen den Tarifparteien. Sowohl der Regelungsbedarf als auch die adäquate Regelungsebene werden kontrovers diskutiert.

Als Befürworter einer stärkeren Regulierung treten insbesondere die Gewerkschaften auf. Sie fordern neben tarifvertraglichen und betrieblichen Regelungen eine stärkere Strukturierung des Weiterbildungssystems durch den Gesetzgeber. In der "Hannoveraner Erklärung" plädieren IG Metall und ver.di für ein Weiterbildungsgesetz, das "den Zugang zur Weiterbildung für alle sichern, für die Herstellung institutioneller Verlässlichkeit sorgen, Transparenz herstellen und die Beratung absichern sowie für Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemeinen Bildungsabschlüsse sorgen (soll). Schließlich sollen arbeitsmarktfähige Abschlüsse vorgesehen, Lernzeitansprüche abgesichert und klare Finanzierungsregelungen geschaffen werden" (vgl. IG Metall/ver.di 2002; Beyer 2002).

Auf Seiten des Gesetzgebers gibt es allerdings keine Aktivitäten, eine Rahmengesetzgebung im Sinne der Gewerkschaften auf den Weg zu bringen. Zwar hatte die rot-grüne Bundesregierung in ihrer Koalitionsvereinbarung von 1998 "den Ausbau und Verankerung der Weiterbildung als vierte Säule des Bildungssystems" als Ziel deklariert, gesetzgeberische Initiativen wurden jedoch nicht auf den Weg gebracht. Eingesetzt wurde eine Kommission, die Vorschläge zur Finanzierung Lebenslangen Lernens ausarbeiten sollte, deren Vorschläge im Sommer 2004 der Bundesregierung übergeben wurden. Sie blieben zwar hinter den Forderungen der Gewerkschaften zurück, enthielten allerdings auch eine Reihe von Empfehlungen, die an den Gesetzgeber gerichtet waren. Entsprechende Initiativen des Bundesregierung haben sie jedoch nicht ausgelöst und es ist auch nicht zu erwarten, dass die neue Bundesregierung unter Führung der CDU diese aufgreift.

Auf Seiten der Arbeitgeber gibt es erhebliche Vorbehalte nicht nur gegenüber einer staatlichen, sondern auch einer tarifvertraglichen Regulierung von Weiterbildung. Die Phalanx der grundsätzlichen Kritiker, die sich gegen jedwede Form der tariflichen Regulierung von Weiterbildung sperren, ist breit. Unterschiedliche Gründe werden hierfür ins Feld geführt:
  • Bezweifelt wird, dass in der betrieblichen Weiterbildung überhaupt etwas im Argen liegt und es eines Anstoßes von außen bedürfe. Die Betriebe hätten die Zeichen der Zeit längst erkannt und würden – schon ihres Überlebens wegen – die notwendigen Investitionen in das Humankapital vornehmen. Defizite in relevantem Umfang gäbe es nicht, schon gar keine, die via Tarifvertrag korrigiert werden könnten oder sollten.
  • Ein zweiter Argumentationsstrang zielt auf Befürchtungen, durch tarifvertragliche Regelungen käme es zu einer Einengung des betrieblichen Handlungsspielraums, einem Verlust an Flexibilität, einer Bürokratisierung der betrieblichen Abläufe und nicht zuletzt einer Fehlallokation von Mitteln, wenn Tarifverträge generalisierte Freistellungsansprüche enthielten.
  • Ein dritter Einwand zielt auf die Einschränkung des unternehmerischen Dispositionsrechts, das sich auch auf die Entscheidung beziehe, in wen das Unternehmen zu investieren gedenke und in wen nicht. Weiterbildung müsse deshalb in der Hoheit der Betriebe bleiben.
Hans Werner Busch, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, fasste die Position seines Verbandes im Jahr 2002 folgendermaßen zusammen: "Wir wollen die berufliche Weiterbildung, die unsere Betriebe nachweisbar beherrschen, auch in Zukunft in deren Eigenregie belassen – die Qualifizierung der Mitarbeiter muss weiterhin eine unternehmerische Aufgabe bleiben. Überbetriebliche Regelungsinstanzen, ob der Gesetzgeber oder die Tarifparteien, können nicht so bedarfsgerecht differenzieren, dass sie für den einzelnen Betrieb und für den einzelnen Arbeitsplatz passende Normen vorgeben könnten" (Gesamtmetall 2002).

Dagegen wird gehalten, dass, anders als von Arbeitgeberseite behauptet, die Betriebe den Umgang mit Weiterbildung keineswegs beherrschten und es nachweisbar gravierende Mängel in der betrieblichen Weiterbildung gäbe. Die Aufwendungen der Betriebe stagnierten seit Jahren oder seien gar rückläufig. Die betriebliche Weiterbildungspraxis sei nach wie vor kurzatmig, auf den aktuellen Bedarf ausgerichtet und eine Weiterbildungsstrategie oft nicht erkennbar. Zudem seien die Chancen der Beschäftigten, ihre Weiterbildungsinteressen einzubringen, ungleich verteilt und insgesamt unzureichend. Dies schlage sich in einer Schieflage bei der Teilnahme an betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen nieder, die dringend korrigiert werden müsse. Die im Rahmen betrieblicher Maßnahmen erworbenen Kompetenzen seien nicht hinreichend dokumentiert, zertifiziert und so gebündelt, dass sie überbetrieblich transferierbar und damit marktgängig seien (vgl. Kruse et al. 2003; Dobischat/Seifert 2001; Petersen 2000; Büchter 1999; Kuwan/Waschbüsch 1995; Islebe 1984; Arnold/Wiegerling 1983; Fuchs/Reuter 2000; Noll 1987).

Der sich fraglos vollziehende Bedeutungsgewinn von beruflicher Weiterbildung, die überwiegend in den Betrieben und in der Regie der Arbeitgeber stattfinde, sei zudem gleichbedeutend mit einer Privatisierung des Weiterbildungsgeschehens und einem Verlust an öffentlicher Kontrolle über Bildungsprozesse, der auch unter demokratischen Gesichtspunkten höchst problematisch sei (Mahnkopf 1990; Kühnlein/Paul-Kohlhoff 2001). Schließlich werde Weiterbildung als Investition in das Humankapital betrachtet, die sich lohnen müsse und zu der auch die Arbeitnehmer nach Meinung der Arbeitgeber und Teile der Wissenschaft einen zunehmenden finanziellen und zeitlichen Beitrag leisten sollen.In der Konsequenz bedeute dies eine tendenzielle Verlagerung der Verantwortung für eine zeitgemäße und den Anforderung der Wirtschaft entsprechende Qualifizierung auf die Beschäftigten. Der Erwerb und die Weiterentwicklung von beruflicher Bildung werde zu einer Bringschuld der Arbeitnehmer. In diesem Lichte lässt sich die Betonung der Selbstorganisierungsfähigkeit, die Vertreter der kompetenzorientierten Wende in der Weiterbildung zum Kern der neuen Fähigkeiten stilisieren, als Verpflichtung interpretieren, selbstverantwortlich und selbstmanagend nach ökonomischem Kalkül die "Flexibilisierung der allseits disponiblen Arbeitskraft im Dienste fremdbestimmter Zwecke" voranzutreiben (vgl. Kade 1997: 90; Plath 2000: 588; May 2003). Die Bewältigung der Risiken werde aufgrund des geringen gesellschaftlichen Gestaltungseinflusses und der fehlenden politischen Bearbeitung privatisiert und zu einer Frage der individuellen Improvisationsfähigkeit und Disposition gemacht.

Es gibt somit eine ganze Reihe von Argumenten, auf die sich die Gewerkschaften bei ihrer Begründung nach einer tariflichen Regulierung von Weiterbildung stützen können. Ein Argumentationsstrang, den wir unter innovations-, aber auch unter verbandspolitischen Gesichtspunkten für wichtig halten, ist jedoch selten im Spiel. Er setzt an einer der Stärken des deutschen Modells an: der Existenz und Entwicklung von Facharbeitsmärkten und der Art und Weise, wie sie entwickelt und geformt wurden und werden.

Das deutsche Modell industrieller Entwicklung basiert in starkem Maße auf der Existenz von Facharbeitsmärkten, die über das duale System der beruflichen Erstausbildung konstituiert sind. Das duale System wird wesentlich durch die Tarifparteien gestaltet, die im Rahmen eines dichten Sets von zentralen und regionalen Institutionen für die Ausgestaltung und Fortentwicklung des Systems sorgen. Die Herstellung und Entwicklung von Beruf und Beruflichkeit im Kontext der aktuellen und sich abzeichnenden Entwicklung ist ihr Fokus. Dieses Beruflichkeitskonzept steht in der Kritik. Variable, sich an Wertschöpfungsketten orientierende Kompetenzbündel, die modular und flexibel gestaltet sind, werden gegen die "klassischen" Berufe in Stellung gebracht. Die "Versäulung" der Berufe mit ihren angeblich die Einsatzflexibilität behindernden Wirkungen wird beklagt (Geißler 1991; Braczyk 1995). Wir sind nicht der Meinung, der Beruf bzw. die Beruflichkeit habe ausgedient, wohl aber, dass Beruflichkeit neu definiert werden muss. Dieser Prozess ist bereits im Gang. Ob Berufe absolut an Bedeutung verlieren ist somit umstritten; nicht umstritten ist, dass ihre Bedeutung relativ gesehen abnimmt. Die Halbwertzeit des auch in der Erstausbildung erworbenen Wissens schwindet und die dort erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen bieten keine Gewähr für eine das Berufsleben überdauernde Beschäftigung. Eine ständige Aktualisierung und Weiterentwicklung der Wissensbestände im Prozess der Arbeit und in organisierter Form von Weiterbildung ist nötiger denn je.

Das duale Berufsbildungssystem ist korporatistisch verfasst. Arbeitgeber, Gewerkschaften und der Staat wirken hier zusammen. Über das duale System und das institutionelle Setting, auf dem es beruht, haben sie gesicherten Einfluss, der weit über die betriebliche Ebene hinausreicht. Sie sind an der Schaffung von Facharbeitsmärkten beteiligt, schnüren Kompetenz- und Qualifikationsbündel und nehmen damit nicht nur auf berufliche Entwicklungs-, sondern auch auf die Verdienstchancen unmittelbar Einfluss. Das Eckentgelt, an dem die gesamte Systematik der betrieblichen Entgeltpolitik hängt, ist z.B. unmittelbar mit dem Berufskonzept verbunden.

Mit dem dualen System der beruflichen Erstausbildung hat sich die deutsche Wirtschaft anhaltende Wettbewerbsvorteile verschafft. Es war nicht nur ein Pfund in der fordistischen Epoche der industriellen Entwicklung, sondern es ist es erst recht in der postfordistischen. Eine theoretisch fundierte und doch praxisnahe Erstausbildung ist ein unverzichtbarer Grundstock auch für darauf aufbauende Weiterbildung. So stark der Einfluss der Tarifparteien auf die berufliche Erstausbildung ist, so schwach ist jener der Gewerkschaften allerdings auf die berufliche und betriebliche Weiterbildung. Es ist ein Feld, das in der Regie der Arbeitgeber betrieben wird und nach Meinung der Mehrheit soll es dabei auch bleiben. Sie definieren die Inhalte, die Formen und die Personen, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen sollen. Bleibt es dabei, wären die Gewerkschaften nicht nur aus einem für die Konstitution der Arbeitsmärkte immer wichtiger werdenden Teil des Bildungssystems ausgeschlossen, damit würde auch die Chance vergeben, die Erfahrungen der Tarifparteien in der beruflichen Erstausbildung auf die Weiterbildung zu übertragen. Leichtfertig verschenkt würde damit auch die Chance, die im und mit dem System der beruflichen Erstausbildung erworbenen Wettbewerbsvorteile zu stabilisieren und auszubauen. Das Engagement und die partnerschaftliche Beteiligung der Gewerkschaften in der beruflichen Weiterbildung ist deshalb aus unserer Sicht nicht nur deshalb geboten, weil soziale Schieflagen korrigiert und Zugangschancen zu Weiterbildung erweitert werden müssen, sondern auch, um die Kompetenzen und Erfahrungen nicht nur der Betriebs-, sondern auch beider Tarifparteien zu nutzen, um innovations- und wettbewerbsfähige Strukturen in der beruflichen Weiterbildung aufzubauen und weiterzuentwickeln.

Der bisherige Umgang der Gewerkschaften mit Weiterbildungsfragen: Kurzer Durchgang durch die Tarifgeschichte

Als Aufgaben- und Gestaltungsfeld der Tarifpolitik wurde Weiterbildung seitens der Gewerkschaften lange Zeit nicht begriffen. Bis in die 1980er Jahre herrschte vielmehr die Meinung vor, eine tarifpolitische Initiative auf diesem Feld würde den Staat von seiner Verantwortung entlasten, weshalb sie tunlichst zu unterbleiben habe. Zudem wurden noch in breitem Umfang Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen durch die Arbeitsverwaltung finanziert, in deren Selbstverwaltungsgremien die Gewerkschaften mitwirkten, wo sie sich für diese Programme stark machten. Auch dies entlastete die Tarifpolitik. Die Schritte, die die Gewerkschaften auf tarifpolitischem Terrain gingen, waren deshalb zunächst recht zögerlich.

Ganz liegen gelassen haben die gewerkschaftlichen Tarifpolitiker das Thema allerdings nicht. Tarifvertraglich aufgegriffen wurde es erstmals im Kontext von Rationalisierungsschutzabkommen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Qualifizierung spielte dabei allerdings eine eher randständige Rolle. Im Vordergrund standen der Kündigungsschutz und die Verdienstabsicherung und erst an dritter Stelle, quasi als ultima ratio des Rationalisierungsschutzes, kam Weiterbildung, genauer gesagt Umschulung, ins Spiel.

Mit zunehmender Freisetzungsdynamik in den "Altindustrien" und nachlassender Aufnahmekapazität des Dienstleistungssektors und der "Neuindustrien" kamen die bis dato praktizierten Formen des tarifvertraglichen Rationalisierungsschutzes jedoch an ihre Grenzen. Weiterbildung als ultima ratio des Rationalisierungsschutzes zu begreifen, entsprach nicht mehr der Zeit. Befördert wurde diese Einsicht durch die anwachsende Massenarbeitslosigkeit gepaart mit Engpässen am Arbeitsmarkt. Der rasche Einzug der Informations- und Kommunikationstechnologien seit Beginn der 1980er Jahre machte zusätzlich klar, dass eine kontinuierliche Anpassung und Weiterentwicklung der Qualifikationen der Beschäftigten zu einer notwendigen Bedingung der Vermeidung von Beschäftigungs- und Verdienstrisiken wird. Damit veränderte sich die Perspektive. Tarifpolitisch konnte es aus Sicht der Gewerkschaften nun nicht mehr nur darum gehen, eine bloß reaktive und defensive Schutzpolitik zu betreiben. Vielmehr musste Weiterbildung als Politik der Risikoprophylaxe angelegt werden. Dementsprechend wollten die Gewerkschaften über tarifvertragliche Regelungen nun sicherstellen, dass
  • ein Anspruch auf Weiterbildung besteht,
  • der Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen jedem/jeder offen steht,
  • die betrieblichen Planungsprozesse, insbesondere die Investitionsplanung mit der Qualifizierungsplanung verknüpft werden und so dafür Sorge getragen wird, dass eine systematische und vorausschauende Qualifizierung der Beschäftigten stattfindet.
Aus dem geforderten Recht auf Weiterbildung für alle wurde zunächst nichts, aber den Gewerkschaften gelang es immerhin, erste Vereinbarungen abzuschließen, die Regelungen zur Qualifizierung in den Kontext technischen und organisatorischen Wandels stellten. Hierzu zählen der Tarifvertrag zur Sicherung bei technischen und arbeitsorganisatorischen Änderungen bei VW aus dem Jahr 1987, die Qualifizierungsbestimmungen des Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrags (LGRTV I) für die Metallindustrie Baden-Württembergs von 1988, also die Vorgängerregelung des Qualifizierungstarifvertrags von 2001, der Tarifvertrag zur Fortbildung und Umschulung in der Druckindustrie von 1990 sowie die Vereinbarung zwischen der IG Chemie-Papier-Keramik und der Deutschen Shell AG aus dem Jahr 1988 über ein "Programm zur Weiterqualifizierung der Mitarbeiter" (Gesamtüberblick Bispinck 2000).

Der Aufschwung, den die tariflichen Regelungen von Weiterbildungsfragen im Sinne einer prophylaktischen Qualifizierungspolitik erfahren hatten, war kurz und deren Wirkungen blieben begrenzt. Die Betriebsräte und das (Personal-)Management wurden sensibilisiert und an das Thema herangeführt. Die Systematik und Stringenz der Bedarfsermittlung und Weiterbildungsplanung verbesserte sich dadurch allerdings nur allmählich. Ein qualitativer Sprung ließ sich vorerst nicht ausmachen. Eine quantitative Ausweitung des betrieblichen Weiterbildungsangebots konnte nicht festgestellt werden und auch keine Verringerung der sozialen Selektivität in der Weiterbildungsteilnahme. Es waren erste Gehversuche, die sich mit der Erkenntnis verbanden, dass hier dicke Bretter zu bohren sind und ein langer Atem verlangt ist (Bahnmüller et al. 1993; Bahnmüller 1999; Seitz 1997; Düll/Bellmann 1998).

Für die 1990er Jahre hatten sich die Gewerkschaften vorgenommen, dem Thema durch die seit längerem anstehende Reform der Entgeltrahmenabkommen neuen Schub zu geben. Die IG Metall wollte bis zur Mitte des Jahrzehnts die "Tarifreform 2000" unter Dach und Fach bringen, andere Gewerkschaften, u.a. die Gewerkschaft Textil- und Bekleidung, wollten sich dem anschließen. Kernpunkte sollten eine qualifikationsförderliche Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Entgeltsysteme sein, flankiert und gestützt durch ein Recht auf Weiterbildung, das bis dato nicht verankert werden konnte. Der rasche Vollzug der deutschen Einheit und die ab 1992 auch im Westen einsetzende Wirtschafts- und Beschäftigungskrise machten die tarifpolitischen Planungen zur Makulatur. Andere Fragen standen nun im Zentrum: in Ostdeutschland die Eingrenzung des beschäftigungspolitischen Desasters und die rasche Angleichung der Tarifstandards an das westliche Niveau, im Westen die Verteidigung der Tarifstandards und die Sicherung der Beschäftigung und der Reallöhne. Zwar blieben in den neuen und später auch in den alten Bundesländern Qualifizierungsfragen weiter auf der tarifpolitischen Agenda, deren Charakter hatte sich jedoch nachhaltig verändert. Es ging nicht mehr so sehr um eine Krisenprophylaxe durch eine kontinuierliche und vorausschauende betriebliche Weiterbildungspolitik, sondern um den Ausbau der Instrumente zur Bewältigung einer bereits akuten Krise. Seinen Niederschlag fand dies u.a. in mehreren Abkommen zur Beschäftigungssicherung, die Qualifizierungskomponenten enthielten sowie in einer Novellierung des Arbeitsförderungsrechts, das bei strukturbedingter Kurzarbeit fortan Maßnahmen zur betrieblichen Qualifizierung ermöglichte sowie in der "Aktivierung des Sozialplans" im SGB III von 1998 (und AFG-Plus von 1995), das nicht mehr den "goldenen Handschlag" in das Zentrum des Sozialplans stellte, sondern die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und die Vermittlung in neue Beschäftigung. Finanziert durch Mittel der Bundesanstalt für Arbeit wurde mehr denn je qualifiziert, allerdings nicht selten auch "auf Halde" mit dem Effekt einer kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Entlastung. Damit erhielt die berufliche Weiterbildung aber zugleich den Nimbus einer kostspieligen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Stilllegungsstrategie ohne konkrete beschäftigungspolitische Perspektive.

Zeitweise gänzlich unter die Räder geriet die Reform der Entgeltrahmenabkommen und mit ihr die tariflichen Konzepte zu einer qualifikationsförderlichen Gestaltung der Arbeits- und Entgeltsysteme. Wo arbeitspolitische Reorganisationskonzepte aufgelegt und mit Qualifizierungskonzepten verbunden wurden, kam es zu betrieblichen Vereinbarungen, selten zu tariflichen. Arbeitspolitik und eine damit verbundene Qualifizierungspolitik war als Gegenstand sektoraler Tarifpolitik nicht mehr verhandlungsfähig. Die Reform der Entlohnungssysteme, bei der manche Gewerkschaften, vor allem die IG Metall, einen Wechsel vom Anforderungs- zum Qualifikationsbezug durchsetzen wollten, um auf diese Weise mehr Dynamik in Sachen Weiterbildung zu entfalten, kam nicht voran. Die Arbeitgeber weigerten sich kategorisch, den Wechsel vom Entlohnungsgrund "Anforderungsbezug" zu "Qualifikationsbezug" mitzumachen, und die Gewerkschaften akzeptierten schließlich dieses Veto. Die Verhandlungen um einheitliche Entgelttarifverträge, in die diese Diskussion eingelagert war, versandeten. Damit war dieser Ansatz einer mit der Entlohnung verbundenen Qualifizierungspolitik erst einmal ad acta gelegt.

Nach dem Durchschreiten der wirtschaftlichen Talsohle nahmen sich die Gewerkschaften, auch angetrieben durch Prognosen über den neuen Facharbeitermangel und einer ungünstigen demographischen Entwicklung, dem Thema wieder offensiv an. Fortschritte konnten sowohl quantitativer als auch qualitativer Art bei Abkommen auf betrieblicher Ebene gemacht werden (Heinemann 1999; Kohl 2000). Nicht selten konnten im Rahmen von Firmentarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen Regelungen vereinbart werden, die über die bisherigen Standards der Flächentarifverträge hinausgingen. Das bezieht sich z.B. auf den garantierten Anspruch auf Weiterbildung, oder auf die Einbindung von Weiterbildung in die Organisations- und Personalentwicklung sowie in betriebliche Reorganisationsprozesse. Heinemann (1999) sieht vier Regelungsebenen, die im Rahmen von Betriebsvereinbarungen vorrangig thematisiert werden:
  • Der Zugang zu den Weiterbildungsangeboten im Betrieb in Form von Vereinbarungen zu Ausschreibungspflicht und zu Teilnahmemöglichkeiten,
  • Vereinbarungen, in denen Verfahren der betrieblichen Weiterbildungsbedarfsermittlung geregelt werden,
  • eine geringe Anzahl von Vereinbarungen, die partizipative und kommunikative Formen der Bedarfsermittlung in Form von Mitarbeitergesprächen oder Personalentwicklungsgesprächen berücksichtigt und
  • Vereinbarungen im Rahmen von betrieblichen Organisationsprojekten.
Neben Betriebsvereinbarungen wurden in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auch eine Reihe von Firmentarifverträgen abgeschlossen. Zu den bemerkenswerten Abkommen zählen der "Tarifvertrag über die betriebliche Weiterbildung" bei der Deutschen Telekom von 1998, der Ergänzungstarifvertrag für die SINITEC Service für Informationssysteme GmbH von 1998, die Qualifizierungsbestimmungen des Tarifvertrags für die DITEC GmbH von 1997, der Ergänzungstarifvertrag zwischen der Tarifgemeinschaft von Dienstleistungsunternehmen des Verbands der Metallindustrie Baden-Württemberg und der IG Metall von 1998, kurz "Debis-Tarifvertrag" genannt, sowie der Qualifizierungstarifvertrag bei VW im Rahmen des Projektes 5000 x 5000 (Bispinck 2000).

Trotz schwieriger Umstände gelang es den Gewerkschaften jedoch auch einige Branchenvereinbarungen zur Weiterbildung abzuschließen (Bispinck 2000). Dazu gehören der Tarifvertrag zur Einrichtung eines Qualifizierungsfonds in der Land- und Forstwirtschaft von 1995, der Tarifvertrag zur Förderung der Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Textil- und Bekleidungsindustrie aus dem Jahr 1997, der Qualifizierungstarifvertrag für die Chemische Industrie aus dem Jahr 2003, der Tarifvertrag in der Feinstblechindustrie, der 2004 abgeschlossen wurde, sowie der Qualifizierungstarifvertrag für die Metallindustrie Baden-Württembergs aus dem Jahr 2001, der Gegenstand dieser Untersuchung ist.

Fasst man die Entwicklung zusammen, lässt sich konstatieren, dass das Interesse der Gewerkschaften an einer tariflichen Regulierung von Weiterbildung in den letzten Jahren erkennbar gestiegen ist. Auch auf Arbeitgeberseite ist die grundsätzlich ablehnende Haltung einer differenzierteren Betrachtungsweise gewichen. Unter bestimmten Voraussetzungen zeigen sie sich offensichtlich bereit, Weiterbildung als Teil der Tarifpolitik zu verstehen. In Branchen, in denen bereits Tarifabkommen existieren, wurden sie verlängert und/oder weiterentwickelt (z.B. Chemische Industrie, Metall- und Elektroindustrie, Textil- und Bekleidungsindustrie), in Branchen, für die noch keine Abkommen existieren, steht das Thema auf der tarifpolitischen Agenda der Gewerkschaften. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) hat im Jahr 2004 ihre "Tarifpolitischen Zielperspektiven zur beruflichen Weiterbildung" (ver.di 2004) formuliert und will das Thema zu einem ihrer Schwerpunkte für die Tarifpolitik der nächsten Jahre machen. Im neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) ist es ihr gelungen, den Anspruch auf ein Qualifizierungsgespräch verbindlich zu machen, in dem geklärt wird, ob und welcher Qualifizierungsbedarf besteht. Im Versicherungs- und Bankgewerbe sowie in der Energiewirtschaft wurden entsprechende Forderungen schon mehrfach in die Verhandlungen eingebracht, bislang allerdings ohne Erfolg. In anderen ihrer Subbranchen ist das Thema in der Diskussion. Auf europäischer Ebene wurden seitens der Dachverbände der Einzelgewerkschaften entsprechende Initiativen beschlossen. Der Europäische Metallgewerkschaftsbund (EMB) hat im Herbst 2005 beschlossen, Weiterbildung und Qualifizierung für die kommenden vier Jahre zu einem tarifpolitischen Schwerpunktthema auf gesamteuropäischer Ebene zu machen.

Innerhalb der Gewerkschaften wird Weiterbildung demnach zunehmend wichtiger genommen und einige Tarifabschlüsse zeigen, dass Qualifizierung ein Thema ist, für das sich die Beschäftigten auch mobilisieren lassen. Mehrere Gründe dürften dafür ausschlaggebend sein. Die kontinuierliche Aktualisierung, Erneuerung und Ausweitung der Qualifikations- und Wissensbestände entscheidet zunehmend über die Beschäftigungs- und Entwicklungschancen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Prozesse finden überwiegend in den Unternehmen und ohne nachhaltigen Einfluss der Gewerkschaften statt. Gelingt es ihnen nicht, fördernd, steuernd und kontrollierend in diese Prozesse einzugreifen, verlieren sie an Gestaltungskompetenz in einem immer wichtiger werdenden Bereich der Bildungs- und der Arbeitswelt.

Ein zweiter Grund liegt in der Organisationsschwäche der Gewerkschaften bei den "Wissensarbeitern" in den indirekten Bereichen der Unternehmen. Mit einer Konzentration auf die klassischen Themen wie Arbeitszeit und Entlohnung werden die Gewerkschaften ihre Organisationsschwäche bei diesen Gruppen schwerlich lösen. Es müssen neue, qualitative Themen hinzukommen, die eine Chance bieten, hier stärker Fuß zu fassen. Qualifizierung könnte eines dieser Felder sein, in dem die Gewerkschaften sich profilieren und die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Interessenvertretung verdeutlichen können.

Ein dritter Grund dürfte in den kleiner werdenden verteilungspolitischen Spielräumen liegen. Lange Zeit konnten die Gewerkschaften ihre Existenzberechtigung und Notwendigkeit dokumentieren, indem sie für eine angemessene Beteiligung der abhängig Beschäftigten am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum sorgten. Seit zehn Jahren fällt die verteilungspolitische Bilanz, auf die sie verweisen können, bescheiden aus. Sie sind in der Defensive und in Abwehrkämpfe verstrickt. Es sieht derzeit nicht danach aus, als würde sich daran in den nächsten Jahren Wesentliches ändern. In dieser Situation bietet es sich an, Themen auf die tarifpolitische Agenda zu setzen, die zwar auch verteilungspolitische Dimensionen haben, die jedoch primär qualitativer Natur sind und Fragen der Qualität der Arbeit und der Innovationsfähigkeit ins Zentrum stellen.

Ein vierter, damit zusammenhängender Grund dürfte schließlich im gesellschaftspolitischen Klima und Umfeld liegen, in dem die Gewerkschaften agieren. Auch wenn gesetzliche Initiativen für ein bundesweites Weiterbildungsgesetz bisher nicht erfolgreich waren und voraussichtlich in den kommenden Jahren nicht sein werden, verspüren die Gewerkschaften doch einen gewissen Rückenwind auch von der Politik für ihr Ziel, durch eine stärkere Regulierung allen Beschäftigten Zugangschancen und die Arbeitsmarktgängigkeit von Abschlüssen zu sichern sowie die Transparenz und Qualität auf dem unüberschaubaren Weiterbildungsmarkt zu verbessern. So wurden die Tarifvertragsparteien in einer gemeinsamen Erklärung des "Bündnisses für Arbeit" aufgefordert, Rahmenbedingungen für Weiterbildung im Sinne eines Lebenslangen Lernens zu vereinbaren. Auch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 konnte als zunehmende Bereitschaft des Gesetzgebers gedeutet werden, den Betriebsräten insgesamt, aber auch in dem Bereich der Weiterbildung neue Rechte und Aufgaben zuzubilligen. Nicht zuletzt steht die mediale Öffentlichkeit ihrem Anliegen, für Qualifizierungstarifverträge zu streiten, erheblich freundlicher gegenüber, als dies bei den meisten anderen Themen der Fall ist. Ein freundliches Presseecho war und ist sicher nicht der Maßstab für die Gewerkschaften, in Zeiten, in denen sie öfter am Pranger als auf dem Siegerpodest stehen, ist es allerdings ein nicht zu vernachlässigender Pluspunkt.

Realistisch muss dennoch gesehen werden, dass die betriebliche Weiterbildung bisher noch ein weitgehend regelungsfreier Raum geblieben ist. Vereinbarungen wurden vor allem für einzelne Unternehmen geschlossen, Flächentarifregelungen gibt es nur für einige, meist kleine Branchen oder, wie in der Metall- und Elektroindustrie, nur für einzelne Tarifregionen (Baden-Württemberg). Ahlene und Dobischat zufolge (2003: 158) vollzieht sich Weiterbildung in den von ihnen untersuchten Unternehmen nur in 29% der Fälle auf einer mehr oder weniger verbindlichen Grundlage. Zusammengezählt wurden hier Tarif- und Betriebsvereinbarungen, Regelungsabsprachen, einzelvertragliche Regelungen und informelle Absprachen. Weiß (2005: 52) kommt auf der Basis der von Ahlende und Dobischat ermittelten Zahlen zu dem Ergebnis, dass bezogen auf alle Betriebe in nur 8% der Unternehmen tarifvertragliche Regelungen wirksam sind. Auch bezogen auf die Beschäftigten spielen Tarifverträge bisher eine untergeordnete Rolle. Nach den Angaben des Berichtssystems Weiterbildung haben im Jahr 2000 zwar 11% der Weiterbildungsteilnehmer eine tarifvertragliche Regelung als Grundlage ihrer Freistellung genannt. Da jedoch nur 29% der Erwerbspersonen an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen teilnahmen, bedeutet dies, dass nur etwa 3% einen tarifvertraglich begründeten Anspruch haben (Weiß 2005: 52). Insgesamt gesehen ist die Erfolgsbilanz der Gewerkschaften demnach noch äußerst bescheiden. Ein individuelles Recht auf Weiterbildung wurde bisher, von wenigen betrieblichen Regelungen abgesehen, nicht in Flächentarifverträgen verankert. Durchsetzen konnten die Gewerkschaften bisher quotierte Ansprüche für Belegschaftsteile (Textil- und Bekleidung), Quoten bzw. bestimmte finanzielle Volumina, die für Weiterbildung verwandt werden sollen (Telekom) oder individuelle Ansprüche auf ein Qualifizierungsgespräch, in dessen Rahmen der individuelle Qualifizierungsbedarf überprüft und Maßnahmen festgelegt werden (Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg). Auch wenn sich die Gewerkschaften verstärkt des Themas annehmen, von einer Kompetenzzuweisung seitens der Beschäftigten und der (Fach-) Öffentlichkeit, wie sie in der beruflichen Erstausbildung erreicht wurde, sind sie jedoch noch weit entfernt. In der beruflichen Erstausbildung haben sie, gestützt auf gesetzliche Regelungen und ein Netz von Institutionen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene, Kompetenzen entwickelt, die sie zu einem anerkannten und unbestritten wichtigen Akteur werden ließen. Für die berufliche und betriebliche Weiterbildung gilt dies bisher (noch) nicht. Die Gewerkschaften haben sich auf den Weg gemacht. Sie gehen dabei unterschiedliche Wege. Es sind Suchprozesse und der Qualifizierungstarifvertrag für die M+E-Industrie Baden-Württembergs gehört mit dazu.

Der Text ist entnommen aus:

Reinhard Bahnmüller / Stefanie Fischbach
Qualifizierung und Tarifvertrag
Befunde aus der Metallindustrie Baden-Württembergs
276 Seiten

ist zum Preis von EUR 17.80 direkt beim VSA-Verlag oder im Buchhandel erhältlich.

Wir danken dem VSA-Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 10.06.2006