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Mehr und bessere Weiterbildung für alle – die Tagungsdokumentation

In einer ersten, einführenden Diskussionsrunde beschäftigte sich Prof. Oskar Negt mit der Rolle der Gewerkschaften. Ihm ging es vor allem um die Frage, wie Bildung und Weiterbildung den Gewerkschaften helfen kann, den Kampf gegen den Neoliberalismus erfolgreich zu führen.

Wozu noch Gewerkschaften?

„Zunächst möchte ich meine Verblüffung zur Kenntnis geben, hier in dieser Runde im Rahmen der Weiterbildungskonferenz von ver.di und IG Metall zu reden. Ich hätte natürlich gerne über Bildung, Weiterbildung und Lebensbegleitendes Lernen gesprochen, aber mir ist offensichtlich die Rolle eines Provokateurs zugedacht. Ich nehme diese Rolle gerne an.

Weiterbildung ist natürlich auch politische Bildung und nicht nur berufliche Bildung. Und wenn es politische Bildung ist, ist es auch eine Angelegenheit für die Organisationen wie die Gewerkschaften, lebensbegeleitend zu lernen. Das heißt, wenn wir Weiterbildung erst nehmen, müssen wir daran gehen, Forderungen des Lernens auch an die Organisation zu stellen. Das ist mein Einstieg: Was die gesellschaftliche Situation betrifft, glaube ich, dass die Gewerkschaften, wenn sie nicht aus ihrer defensiven Haltung, mit dem Rücken zur Wand, herauskommen – immer nur in der Verteidigung des Bestehenden, Erworbenen und Erkämpften verharren – werden sie immer weniger Erfolge haben. Der Spielraum wird immer enger. Das ist der Grundtenor meines Buches „Wozu noch Gewerkschaften?“. Die Voraussetzung dafür, aus einer gesellschaftlichen Situation, die in der Tat nicht mehr so klare Klassenfronten hat, dass man sagen kann, wir stehen auf dieser Seite und wir versuchen strategisch, diese Seite zu entwickeln und dann werden wir Erfolg haben, ist nicht mehr gegeben. Ich glaube, dass Bildung und strategisches Denken eine wichtige Verbindung sind, und das gilt ebenso für die Berufsbildung wie für andere Bildungsgänge. Ich werde am Schluss meines Beitrags darauf zu sprechen kommen, was eigentlich das Menschenbild ist, auf das hin gebildet werden soll, d.h. welchen Menschen haben wir vor uns, wenn wir in den Gewerkschaften eine Bildungsoffensive entwickeln.

Vier Handlungsfelder und Mandats-Erweiterungen sind zu nennen, wenn es um die Zukunft der Gewerkschaften geht.
  1. Ich meine, die Gewerkschaften haben einen zu engen – traditionellen – Begriff von Arbeit. Zugespitzt kann man sagen, einen Kapital-fixierten Begriff oder einen Betriebs-fixierten Begriff von Arbeit. Dagegen bestehen in der heutigen gesellschaftlichen Situation viele Formen von Arbeit, die von den Gewerkschaften überhaupt nicht als Arbeit anerkannt werden. Was ist z.B. mit Bildungsarbeit oder Beziehungsarbeit? Sind das nicht ganz neue Formen von Arbeit, die man wahrnehmen muss, weil vielfach die Identitätsbildung der Menschen mit Arbeit verknüpft wird, die in dieser Gesellschaft nicht bezahlt wird. Die Erweiterung des Arbeitsbegriffs wäre daher ein Element der Neubesinnung auf eine veränderte gesellschaftliche Situation, die der betriebsbezogene enge Begriff von Arbeit so nicht mehr fassen kann.

  2. Die zweite Erweiterung, die ich vorschlage, ist die des Interessenbegriffs und der Interessendimension. Es ist eben nicht mehr so, dass man sagen kann, dass was die Menschen bewegt, was sie wollen, woran sie denken und wovon sie träumen sei alles in beruflichen und betrieblichen Zusammenhängen gebildet, sondern die außerbetriebliche Dimension der Selbstbildung der Menschen und der politischen Aktivitäten der Menschen wird von immer größerer Bedeutung. Wo sind die Gewerkschaften in der Fläche vertreten, wo sind sie überhaupt sichtbar mit ihren Angeboten? Kaum noch, auch symbolisch nicht, vielleicht zum 1. Mai hin und wieder. Aber das reicht nicht. Deshalb plädiere ich für ein zweites Organisationsstandbein außerbetrieblicher Art. Es gab Ansätze in der Geschichte der deutschen Gewerkschaften in der Nachkriegszeit durch die DGB-Ortskartelle, so etwas wie eine Schnittstelle zu organisieren, sich auf Bürgerinitiativen einzulassen und mit diesen etwas zu erkämpfen. Das ist leider zurückgegangen. Ein außerbetriebliches Standbein ist natürlich schwierig und viele Gewerkschafter haben mir gesagt, das sei nicht fassbar, das hat keine Form und wie sollen wir das machen, wir haben ja schon Schwierigkeiten, uns in den Betrieben zu verankern. Meine These ist, je weniger man sich auch in außerbetrieblichen Zusammenhängen aktiv zeigt, umso schwieriger wird es auch sein, sich in den Betrieben zu verankern.

  3. Die dritte Erweiterungsdimension bezieht sich auf die vielleicht bedrohlichste Entwicklung. Das kulturelle Milieu hat sich in unserer Gesellschaft so gewerkschaftsfeindlich entwickelt, dass ich vermute, dass selbst „einfache“ harte tarifpolitische Kämpfe in Zukunft immer weniger durchgestanden werden können, wenn das kulturelle Umfeld – die Symbole, die Sprache, die Argumentationskunst – nicht entwickelt werden. Mit anderen Worten, die Erweiterung des kulturellen Mandats hat für mich auch einen Sinn im Hinblick auf die Durchsetzungsfähigkeit von tarifpolitischen Forderungen.

  4. Das vielleicht Schwierigste ist die Erweiterung des politischen Mandats. Die Gewerkschaften müssen erkennen, wo die Lücken des Systems sind: Der Privatisierungswahn in dieser Gesellschaft und das betriebswirtschaftliche Denken als eine Art Kontamination, als Ansteckung, eine Art Pest, die in dieser Gesellschaft um sich greift. Die Gewerkschaften müssen dagegen eine andere Ökonomie, eine Ökonomie des ganzen Hauses entwickeln, eine Bilanz der Gesellschaft und das sichtbar machen, meinetwegen auch in Gesellschaftsutopien. Wenn das nicht gelingt, wird die Attraktivität der Gewerkschaften – auch und gerade für junge Menschen – nachlassen.

Deshalb zum Schluss: es muss in den Gewerkschaften etwas passieren, das nicht nur mit politischer Bewusstseinsbildung zu tun hat, sondern auch mit dem Nachdenken über das, was diese Gesellschaft des Neoliberalismus mit den Menschen anrichtet und wie sie beschädigt werden. Und einem Nachdenken darüber, wo die Lücken des Neoliberalismus sind, die man aufgreifen muss, um so etwas wie einen gesellschaftsfähigen Menschen zu fördern. In der Bildung, aber nicht nur, sondern auch im alltäglichen Handeln. Die utopische Dimension ist so wichtig für die Entwicklung eines Menschenbildes, in diesem ist der innengeleitete Mensch und nicht der außengeleitete Mensch Bildungsziel. Dass der Mensch seine gesellschaftlichen Fähigkeiten entwickelt, muss Ziel von Bildung und strategischem Handeln sein. Auf keinen Fall kann das Ziel von Bildung jener Mensch sein, der darauf aus ist, allseitig verfügbarer Mensch zu werden. Die allseitige Verfügbarkeit, gekoppelt mit einer Wahnsinnsvorstellung, dass jeder Mensch ein Unternehmer sei und sich auf Augenhöhe mit den Kapitalbesitzern befindet. Das sind Ideologien, die so kompakt sind und auf Umdefinition des Menschenbildes abzielen und die, so glaube ich – leider - in die Gewerkschaften eindringen und daher so gefährlich sind. Sie zielen ab auf den allseitig flexiblen Menschen, der jederzeit verfügbar ist, den, politisch gesprochen, leistungsbewussten Mitläufer in der Gesellschaft. Und es ist eine große Gefahr für die demokratische Gesellschaftsordnung, wenn unser Bildungssystem einen solchen Menschentyp produziert. Wenn in der Schule und der Universität die schnelle Anwendbarkeit von Informationen, und nicht mehr Bildung als eine Art Vorrat an Möglichkeiten des Menschen, vermittelt wird.


Für die Gewerkschaften ist es notwendig, einen Begriff von Gesellschaft zu entwickeln und worauf man hinaus will mit dieser Vorstellung von Gesellschaft. Natürlich muss das alles heruntergebrochen werden, aber die Mutlosigkeit, die sich hierbei zeigt, beruht meiner Meinung nach darauf, dass gar nicht mehr über Alternativen nachgedacht wird. Und das bestärkt die, die im Augenblick Systemmacht ausüben darin, dass sie auf der richtigen – historischen – Seite zu sein glauben. Um denen die Legitimation zu nehmen, bedarf es bestimmter strategischer Vorstellungen, die über den Tag hinausreichen und auf eine Neuorganisation der Gesellschaft hinweisen.“

Sie können die vollständige Tagungsdokumentation hier als pdf-Datei herunterladen.

Die Streitschrift „Bildung ist keine Ware“ finden Sie unter Weiterbildungskonferenz von ver.di und IG Metall.

Weitere Informationen zur Berufsbildungspolitik von ver.di finden Sie auf der Seite des Bereichs Berufsbildungspolitik in ver.di.


Verweise zu diesem Artikel:
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 11.07.2006