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Kirkeler Erklärung für eine neue Weiterbildungskultur

In Deutschland gehören Arbeiterbewegung und Erwachsenenbildung schon immer zusammen. Dies dokumentieren die Bemühungen der Arbeiterbildungsvereine des 19. Jahrhunderts. Bereits damals gründeten sich die ersten gewerkschaftlichen und sozialistischen Bildungsinitiativen, die für die Erwachsenenbildung wegweisend waren. Unter schwierigen Bedingungen – erinnert sei stellvertretend an die bismarckschen Sozialistengesetze - nahm die Arbeiterbildungsarbeit ihren Anfang. Der Anspruch war klar: Schulbildung, Wissen über politische und ökonomische Grundlagen, Kunst, Literatur, Theater und Geistes- und Naturwissenschaften sollten auch den bildungsmäßig benachteiligten Arbeitern und Arbeiterinnen zustehen. Bildungsarbeit war also als ein mit politischer Aufklärungsarbeit verbundener emanzipatorischer Ansatz definiert.

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit überwinden

Heute ist festzustellen: Zwischen dem allseits und vor allem in „Sonntagsreden“ betonten Bedeutungszuwachs lebenslangen Lernens einerseits und der Weiterbildungsrealität andererseits existiert seit Jahren eine deutliche Diskrepanz. Zwar konnte sich Weiterbildung - gemessen an Teilnehmerzahlen und Finanzvolumen - zwischenzeitlich zum größten Bildungsbereich entwickeln, jedoch haben sich die Chancen des Einzelnen, daran teilzuhaben, nicht verbessert. Hinzu kommt, dass die Zugangs- und Beteiligungschancen für Weiterbildungsinteressierte nach wie vor in hohem Maße ungleich verteilt sind. Noch immer gilt das Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben - wer aber wenig hat, bekommt fast nichts.“ Deshalb kann Weiterbildung unter den aktuell gegebenen Rahmenbedingungen die durch PISA belegte soziale Selektion im Schulwesen nicht kompensieren. Gerade dies aber wäre Aufgabe von Weiterbildung in ihrem Verständnis als Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierter Lernprozesse nach Beendigung einer ersten Bildungsphase. Der neo- bzw. marktliberale Zeitgeist trägt das seinige dazu bei, die bestehenden Ungleichheiten in der Weiterbildung zu verfestigen.

Menschen oder „Humankapital“ - Bildung ist keine Ware

Mehr und mehr entwickelt sich zwischenzeitlich ein Weiterbildungsleitbild, dass nicht mehr den Menschen und die Entfaltung seiner Fähigkeiten als erstrebeswertes Ziel sieht, sondern den Menschen als „Humankapital“ im internationalen Standort-wettbewerb. Zielsetzung ist nicht mehr der allseits gebildete und mündige Mensch, sondern der „allseits Verfügbare“. Nicht der Mündige, sondern der Angepasste – angepasst an die Notwendigkeiten der Kapitalverwertung. In der Sprache der EU heißt das in Mode gekommene Schlagwort hierfür „Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit).

Vor diesem Hintergrund degeneriert Weiterbildung immer mehr zur eng begrenzten betrieblichen „just in time“ Qualifizierung, während gleichzeitig berufliche und allgemeine Weiterbildung vernachlässigt werden und politische Weiterbildung zum Luxusartikel wird. Demzufolge stehen für betriebliche Weiterbildung weit mehr Finanzmittel zur Verfügung als für politische. Angesichts der Finanzkrise des Staates und verschlechterter Rahmenbedingungen brechen im Bereich der allgemeinen und politischen Bildung schon seit längerem gesellschaftlich sinnvolle Angebote weg.

Dabei ist politische (Weiter)Bildung angesichts von Orientierungslosigkeit und Resignation, von sozialer Unsicherheit und sozialen Ängsten in Folge sozioökonomischer Umbrüche und den damit einhergehenden Krisen notwendiger als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.

Der früher gegebene Konsens, dass schulische und außerschulische Bildung sowie politische Erwachsenenbildung unentbehrliche Elemente der politischen Kultur sind, existiert nicht mehr. Dabei vermitteln doch gerade allgemeine und politische Bildung Grundorientierungen und Kompetenzen, die es den Menschen erlauben, den politischen und gesellschaftlichen Wandel in einer immer komplexer werdenden Welt zu verstehen und aktiv mitzugestalten. Sie bilden zudem die Grundlagen und Voraussetzungen für die Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung und des für ein Gemeinwesen so notwendigen gesellschaftlichen Engagements.

Stellenwert der Weiterbildung erkennen und Finanzierung sichern

Um Weiterbildung im Allgemeinen und politische Weiterbildung im Besonderen nachhaltig zu verbessern und zukunftsfähig zu machen, ist es dringend erforderlich für die Realisierung folgender Punkte Sorge zu tragen:
  1. Weiterbildung muss in unserer Gesellschaft endlich den ihr gebührenden Stellenwert erhalten. Dringend geboten ist eine Weiterbildungskultur, in der Weiterbildung ein selbstverständlicher und für die gesellschaftliche Entwicklung notwendigen Teil unseres Lebens wird. Denn: Zusammenhalt und soziale Entwicklung unserer Gesellschaft, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit hängen in einem immer stärkerem Maße davon ab, welchen Stellenwert Bildung und Weiterbildung in unserer Gesellschaft tatsächlich einnimmt.

  2. Durch gesetzliche Regelungen sowie der Bereitstellung finanzieller Ressourcen auf Bundesebene muss der Rahmen für ein einheitliches und zukunftsfähiges System der Weiterbildung für die Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden. Die im Koalitionsvertrag vom November 2005 vereinbarten Zielsetzungen,
    • die Teilnahme an Weiterbildung deutlich zu erhöhen und sozial Benachteiligte zu fördern,
    • Jugendlichen und Erwachsenen ohne Schulabschluss und Ausbildung eine zweite Chance zu gewähren,
    • die Weiterbildung zur vierten Säule des Bildungssystems zu machen,
    • mit bundeseinheitlichen Rahmenrichtlinien eine Weiterbildung mit System zu etablieren,
    • die Bildungsberatung zu verbessern und die Qualität zu sichern
    gehen in die richtige Richtung, müssen jedoch ernsthaft betrieben, umgesetzt und finanziert werden.

  3. Angesichts einer gegenwärtig noch ungewissen Schaffung gesetzlicher Regelungen auf Bundesebene sind tarifvertragliche und betriebliche Vereinbarungen – wie zuletzt vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gefordert - zu forcieren, damit eine dringend notwendige und aktive Qualifizierungs- und Weiterbildungspolitik vorangetrieben wird. Im Falle der Einführung einer bundesgesetzliche Regelungen könnte dann die sinnvolle Verknüpfung beider Bereiche vorgenommen werden.

  4. Die in den Bundesländern bestehenden Bildungsfreistellungsgesetze müssen zu einem Regelwerk für Weiterbildung ausgebaut werden, wie dies beispielsweise in den skandinavischen Ländern oder in Frankreich der Fall ist. Für das Saarland gilt dabei: Die mit der Novellierung der Saarländischen Weiterbildungs- und Bildungsfreistellungsgesetzes im Jahre 2003 verbundenen Verschlechterungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in einem ersten Schritt rückgängig zu machen. Zudem muss dieses Gesetz in weiteren Schritten in obigem Sinne ausgebaut werden muss.




Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 01.11.2006