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Niedriglöhne, prekäre Beschäftigung und Gewerkschaften

Vorbemerkung: Nachfolgende Thesen sind reichlich holzschnittartig, sie sind zugespitzt und nicht in jedem Fall wissenschaftliche verifizierbar. Es sind eben Thesen ...

Die Bereiche atypischer und prekärer Beschäftigung nehmen in der Bundesrepublik Deutschland – wie in allen Industriestaaten – seit Jahren zu. Exemplarisch seien hier genannt: Leiharbeit, Scheinselbständigkeit, Subunternehmertum, Honorar- und Werkvertragsbeschäftigung, Mini-Jobs, Arbeit auf Abruf, erzwungene Selbständigkeit (Ich-AG), befristete Beschäftigung, illegale Beschäftigung, Heimarbeit.

Von prekärer Beschäftigung sind inzwischen weite Teile des Wirtschaftslebens in der Bundesrepublik betroffen. In einigen Sektoren ist der Anteil prekärer Beschäftigung besonders hoch: Hotel- und Gaststättengewerbe, Freizeitindustrie, Reinigungsgewerbe, Systemgastronomie, Einzelhandel, Transport und Logistik, Medien, Kunst und Kultur, Callcenter, Pflegedienste und sonstige personenbezogene Dienstleistungen.

Die Anzahl der prekär Beschäftigten lässt sich schwer beziffern. Das hängt nicht nur mit dem großen Feld der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung zusammen, sondern auch mit der unzureichenden Arbeitsmarktstatistik in Deutschland. Die Vermutung, dass wir von einer Größenordnung sprechen können, die sich im Millionenbereich bewegt, ist berechtigt.

Prekäre Beschäftigung zeichnet sich üblicherweise (aber nicht ausschließlich!) durch Niedriglöhne, unzureichende Berücksichtigung rechtlicher und tariflicher Regelungen, geringe qualitative Anforderungen und geringes Qualifikationsniveau, hohe Krankenstände, atypische Arbeitszeiten, geringe Sicherheits- und Sozialstandards, hohe Fluktuation und eine große Anzahl an – nicht nur arbeitsplatzbezogenen – Problemen für die betroffenen Personen aus. In den großen Sektoren prekärer Beschäftigung finden sich gehäuft Migrantinnen und Migranten, Menschen mit unzureichender schulischer und beruflicher Qualifikation. Der Altersdurchschnitt ist niedriger als in anderen wirtschaftlichen Sektoren, in denen noch unter den Bedingungen des Normalarbeitsverhältnisses und unter Beachtung bestehender Gesetze und Regelungen gearbeitet wird. Aber Achtung: Prekäre Beschäftigung wird von den betroffenen Personen z. T. bewusst angestrebt. Das betrifft hochqualifizierte Tätigkeiten im Medienbereich, der IT-Branche oder der Kultur. Aber auch Menschen, denen die Angebote an atypischer Arbeitszeitgestaltung in ihren persönlichen und familiären Bedürfnissen entgegenkommen. Außerdem gibt es eine Gruppe eher besser qualifizierter junger Beschäftigter, denen es um Zuverdienste (z. B. im Studium) oder um Überbrückungstätigkeiten geht.

Prekäre Beschäftigung wird bewusst gefördert: Sowohl Regierungshandeln (Hartz-Gesetze, Zumutbarkeitskriterien) wie das Agieren der öffentlichen Hand (Privatisierung) und die Strategien privater Unternehmen (Outsourcing) befördern die genannten Entwicklungen. Prekäre Beschäftigung ist nur in Ausnahmefällen der Einstieg in ein geregeltes Arbeitsverhältnis in Teil- oder Vollzeit. Das Gros der Beschäftigten bleibt in schwierigen Verhältnissen und dabei immer an der Schwelle zu Arbeitslosigkeit und Armut. Prekäre Beschäftigung schafft auf den ersten Blick neue Arbeitsplätze. Häufig verbirgt sich dahinter der Verlust von Arbeitsplätzen in eher traditionellen Sektoren und Formen mit geregelten Arbeitsbedingungen. Volkswirtschaftlich gesehen ist die Orientierung auf Niedriglohnsektoren wg. unzureichender Wertschöpfung und fehlender Kaufkraft eine Sackgasse.

... und die Gewerkschaften

Für Gewerkschaften in Deutschland stellen die benannten Bereiche prekärer Beschäftigung ein weitgehend unbekanntes Gebiet dar. Abgesehen von einigen zahlenmäßig bescheidenen Ausnahmen (vereinzelt HoGa, Transport und Logistik etc.) handelt es sich um gewerkschaftsfreies Land. Sei es, weil es sich um neuere Entwicklungen handelt, die sich jenseits klassischer Gewerkschaftsstrukturen entwickelt haben, sei es weil sich Gewerkschaften jenseits geregelter Voll- und Teilzeitarbeit nicht betätigen wollten: Im Ergebnis sind riesige weiße Flächen auf der Karte der Wirtschaftsstruktur entstanden, die tarifvertraglich und organisationspolitisch außerhalb des gewerkschaftlichen Einflusses liegen. Zentrale – aber ungern öffentlich genannte – Gründe für die gewerkschaftliche Abstinenz (neben der allgegenwärtigen Überlastung): Niedrige Löhne und damit geringe zu erwartende Beiträge, hohe Problemdichte mit viel Beratungsbedarf und vielen zu erwartenden juristischen Auseinandersetzungen, gewerkschaftsunübliche Arbeitszeiten und Arbeitsorte, kulturelle und fachliche Defizite im Umgang mit den betroffenen Menschen, Unkenntnis der Probleme der Betroffenen (Ausländerrecht, Sozialrecht). Unzureichende Realisierung des wirtschaftlichen Strukturwandels und seiner Folgen für die Arbeitsplatzstruktur in Deutschland. Unzureichende oder gar keine Konsequenzen für Strategien der Mitgliederwerbung, der Organisierung und der Durchsetzung gewerkschaftlicher Ziele. Dazu kommt eine Überschätzung eigener Kräfte und Kapazitäten, die selbst Mitgliederverluste von über 30 % nicht realisiert und immer noch auf Strategien und Politikkonzepte aus den 60er und 70er Jahren setzt. Prekär Beschäftigte – Neue Zielgruppen für sich wandelnde Gewerkschaften?

Eine gewerkschaftliche Neuorientierung und Ausrichtung auf Sektoren prekärer Beschäftigung ist sinnvoll und notwendig.

Im Unterschied zu hochqualifizierten Angestelltenbereichen, in denen viele gewerkschaftliche Projekte beachtliche Ressourcen verschlingen, hat die Zielgruppe der prekären Beschäftigten ein paar deutliche Vorzüge: Eine Massenbasis ist vorhanden – bei fortschreitendem Strukturwandel und fortschreitender Globalisierung mit zunehmender Tendenz.

Es handelt sich um potenzielle Mitglieder, die die strukturellen Defizite in der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft ansatzweise beheben könnten: Eher jünger, hoher Frauenanteil, höherer Migrantenanteil. Die Erwartungen und Anforderungen an Unterstützung sind relativ klar und einfach zu festzustellen und zu beschreiben. Es ist weniger Überzeugungsarbeit im Detail vonnöten, ein Informations-, Beratungs- und Rechtshilfeangebot bei akuten und klar definierten Problemen kann die Mitgliedschaft bringen.

Orientierung auf Sektoren prekärer Beschäftigung bewirkt Veränderungen im Serviceangebot der Gewerkschaften (deutlich mehr Mitgliedernähe vonnöten) bei gleichzeitig notwendiger Steigerung der Auseinandersetzungsfähigkeit (einzelbetriebliche Konflikte, unbelehrbare Arbeitgeber).

Die Vernetzung von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften lässt sich bei prekär Beschäftigten in sinnvolle und effiziente Zusammenarbeit umsetzen.

Es handelt sich nicht um spezifisch deutsche oder europäische Entwicklungen. Daher können deutsche Gewerkschaften an internationale Erfahrungen anknüpfen. Und: Last but not least wäre der DGB in der Lage, hier eine Vorreiterfunktion einzunehmen. Durch Erarbeitung von Hilfestellungen, durch modellhafte Projekte, durch Nutzung seiner – noch – weitgehenden Präsenz in der Fläche. Derartige Neuausrichtungen erfordern in der gewerkschaftlichen Diskussions- und Gestaltungskultur eine ganze Menge. Ich bin aber der Überzeugung, ohne eine Neuorientierung auch in Bezug auf zukünftige Mitglieder werden sich die deutschen Gewerkschaften immer mehr zu berufsständischen Organisationen in ganz bestimmten Branchen und Wirtschaftszweigen entwickeln. Das wäre der Abschied von der Einheitsgewerkschaft – und der Abschied von der Idee einer Arbeiterbewegung. Zumindest der DGB würde das schwerlich überleben.

Sebastian Wertmüller, März 2004

Quelle. Prekäre Beschäftigung, Handreichungen für die politische Arbeit von Ehrenamtlichen vor Ort,
DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt, September 2005



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Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 01.08.2008