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Prekäre Arbeit Ursachen – Folgen – Handlungsmöglichkeiten


Klaus Böhme, Vorsitzender des Fachbereichs Bildung, Wissenschaft und Forschung, eröffnete die Fachtagung mit einer kurzen Darstellung über Charakteristika und den Umfang prekärer Beschäftigung.


„Die heutige Veranstaltung ist die erste gemeinsame Tagung der beiden kooperierenden Fachbereiche Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Besondere Dienstleistungen. Auch wenn auf den ersten Blick die beiden veranstaltenden Fachbereiche wenige Gemeinsamkeiten haben, so verfolgen die beiden Präsidien und beide Bundesfachbereichsvorstände das Ziel, ihre Kooperation nicht nur strukturell, sondern auch und vor Allem inhaltlich mit Leben zu füllen. Und so liegt es nahe, gemeinsam auf eine gesellschaftliche Entwicklung einzugehen, die eine immer größer werdende Zahl von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen aus den Organisationsbereichen der beiden Fachbereiche trifft: die Ausbreitung von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen oder das Phänomen der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse.

Sofern diese Entwicklung hierzulande überhaupt Beachtung findet, wird sie eher als Randerscheinung wahrgenommen. Wir aber meinen, dass die Ausbreitung und Verfestigung eines Bereichs mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen im Mittelpunkt der sozialen Frage am Beginn der 21. Jahrhunderts steht und auch oder gerade für die gewerkschaftliche Interessenvertretung von hoher Brisanz ist.


Was verstehen wir unter prekärer Arbeit?
Das Wort prekär stammt von zwei lateinischen Wörtern ab, nämlich:
precarius heißt bedenklich, peinlich, unangenehm, unsicher, heikel, schwierig
und
precere heißt um etwas bitten müssen, etwas durch Bitten erlangen

Vor allem Letzteres, also der Umstand um alles bitten müssen im Gegensatz zum auf etwas Rechtsanspruch haben“ bezeichnet einen charakteristischen Unterschied zwischen der Situation zum Beispiel einer schwangeren Frau in einem befristeten und einem unbefristeten Arbeitsverhältnis. Während die eine einen Rechtsanspruch auf Mutterschutz hat, kann die andere allenfalls um eine Rückkehr auf ihren Arbeitsplatz bitten.


Was kann das „Prekäre“ an der Arbeit sein?
Es gibt vier wesentliche Kriterien, die das Prekäre eines Beschäftigungsverhältnisses ausmachen.

Zunächst ist der Grad der Arbeitsplatzsicherheit ein zentraler Faktor. Ist der zeitliche Horizont eines Arbeitsverhältnisses sehr kurz und korrespondierend dazu das Risiko des Arbeitsplatzverlustes sehr hoch, ist dies ein deutliches Indiz für prekäre Arbeit.

Zum zweiten ist der Grad der Beeinflussung und die Kontrolle über die Arbeitsbedingungen von Seiten der Beschäftigten von Bedeutung. Je weniger ein/e Arbeitnehmer/in in die Mitgestaltung seiner/ihrer Tätigkeit integriert ist, desto näher rückt ein Arbeitsverhältnis in Richtung prekär.

Ein weiteres Indiz für ein prekäres Arbeitsverhältnis sind schwache oder sogar keine Schutzbestimmungen. Diese haben im Regelfall rechtlichen Charakter, sind von Gewerkschaften oder anderen Organisationen eingefordert und aufgestellt und sollen die Arbeitnehmer/innen vor Diskriminierung und inakzeptablen Arbeitsbedingungen schützen und ihnen den Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen ermöglichen.

Last but not least kommt als Kriterium das Einkommen hinzu. Bei einem sehr niedrigen Einkommen ist die Existenzsicherung nicht mehr gegeben.
Das typische prekäre Arbeitsverhältnis ist nicht durch ein einzelnes Kriterium geprägt, sondern durch die Kombination mehrerer dieser Faktoren. Ein wenig generalisierend kann man sagen: Wenn ein Arbeitsverhältnis keine verlässliche Lebensplanung ermöglicht, muss man es als prekär bezeichnen.


Wie sieht die Situation in Deutschland aus?
Immer weniger Arbeitnehmer habe einen klassischen Vollzeitjob. Die Zahl der normalen Arbeitsverhältnisse ist in den vergangenen zehn Jahren um 1,53 Millionen gesunken. Neue Beschäftigungsformen wie Minijobs und Zeitarbeit nehmen dagegen stark zu.

Immer mehr Menschen in Deutschland sind befristet beschäftigt, arbeiten in Teilzeit oder als Leiharbeiter. Die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse – also Minijobs, Leiharbeit, befristete Stellen und Teilzeitstellen unter 20 Stunden - ist zwischen 1997 und 2007 um 2,58 Millionen auf 7,68 Millionen gestiegen, so das Statistische Bundesamt in der letzten Woche.

Der Anteil dieser Beschäftigten an der Gesamtzahl ist von 18 auf 26 Prozent gestiegen, also mehr als einem Viertel der Arbeitnehmer befinden sich in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis.

Das Statistische Bundesamt stellt in seiner Analyse dazu fest: Zitat ‚Im Gegensatz zur Normalarbeit, die in der Regel darauf ausgerichtet ist, den eigenen Lebensunterhalt und eventuell den von Angehörigen zu finanzieren, können die neuen oder atypischen Beschäftigungsformen diesen Anspruch nur bedingt erfüllen.‘ Zitat Ende. Trotzdem sind nach Ansicht des Statistischen Bundesamtes Minijobs und ihresgleichen ‚nicht zwangsläufig mit prekärer Beschäftigung gleichzusetzen.‘

Ob in den vergangenen Jahren reguläre Jobs weggefallen sind, weil Firmen beispielsweise eine Vollzeitstelle durch zwei Minijobs ersetzt haben, lasse sich aus den erhobenen Daten nicht direkt ableiten. Die Tatsache aber, dass die Zahl der Arbeitsstunden mit 47,8 Milliarden Stunden nahezu konstant geblieben ist, spreche allerdings dafür, dass ‚gleiche zeitliche Volumen an Arbeit auf mehr Köpfe umverteilt wurde.‘“




Dr. Alexandra Wagner vom Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt (FIA) befasste sich in ihrem Vortrag mit den Ursachen und Triebkräften der Veränderung der Beschäftigungsstruktur.

Frau Wagner befasste sich zunächst mit der Frage, was ein Normalarbeitsverhältnis charakterisiert. Meist definiert sei es als abhängig sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsform, die als unbefristete Beschäftigung bei Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis ausgeübt werde.

Häufig übersehen würde dabei aber die geschlechtstypische Arbeitsteilung, die sich hinter dieser Beschäftigungsform verstecke.
  • Mann als Familienernährer (mit Familienlohn),

  • Partnerin zuständig für unbezahlte Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit UND sorgt für nahezu grenzenlose Verfügbarkeit des Ernährers für Erwerbsarbeit (Überstunden, flexible Einsatzzeiten),

  • abgeleitete Ansprüche: Ehegattensplitting, kostenlose Mitversicherung in gesetzlicher KV, Hinterbliebenenrente.

Das typische Normalarbeitsverhältnis sei der männliche Facharbeiter im Westen. Dieses Beschäftigungsverhältnis gehe zurück und man müsse sich die Frage stellen, ob es überhaupt erstrebenswert sei, es erhalten zu wollen.


Daneben habe das Normalarbeitsverhältnis eine wichtige Schutzfunktion: Es grenzt den Warencharakter der Arbeitskraft auf vielfältige Weise ein:
  • kollektivvertraglich oder arbeits- bzw. sozialrechtlich gesicherte Rahmenbedingungen der Beschäftigung
    (Arbeitszeit, Löhne, Transferleistungen, Arbeits- und Gesundheitsschutz)

  • Bindung von Unternehmensentscheidungen durch Regeln
    (z. B. Kündigungsschutz, Mitbestimmung)

  • soziale Sicherung in Zeiten der Nichtarbeit (Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit)

  • Investition in die Arbeitskraft (Aus- und Weiterbildung)

  • Schutz vor Überforderung (z. B. Festlegung von Höchstarbeits- oder Urlaubszeiten) zum langfristigen Erhalt der Arbeitskraft

Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses diese Schutzfunktionen und schwäche die Verhandlungsmacht der Beschäftigten gegenüber den Arbeitgebern.


Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses führe zu vielfältigen Beschäftigungsformen
  • Sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit
  • Minijobs, Kurzzeitige Beschäftigung
  • Leiharbeit
  • Selbständigkeit (Solo-Selbständigkeit, Scheinselbständigkeit)
  • Befristete Beschäftigung
  • Praktika, Werkverträge

Gleichzeitig deutet die Erosion auch auf Veränderungen in der Arbeitsteilung von Frauen und Männern hin:
  • Steigende Erwerbs- und Beschäftigungsquoten von Frauen
  • Abnahme des klassischen Ernährermodells

Ein neuer Zusammenhang zwischen individueller Erwerbsbeteiligung und familienbezogener sozialer Sicherung finde statt, der durch entsprechend ausgestaltete soziale Schutzsysteme ausgestaltet werden müsse.




Prof. Dr. Wolfgang Däubler beschäftigte sich am zweiten Tag mit betrieblichen und politischen Regulierungsansätzen prekärer Beschäftigung.

Er sprach sich dafür aus, prekäre Beschäftigungsformen rechtlich so auszugestalten, dass sie keine wirtschaftlichen Vorteile für den Arbeitgeber bieten. Wenn die Entscheidung des Arbeitgebers für ein Normalarbeitsverhältnis oder eine Form prekärer Beschäftigung nicht mehr durch wirtschaftliche Vorteile bestimmt würden, ginge die Zahl prekärer Beschäftigung von allein zurück. Wo dies nicht möglich sei, sprach er sich für ein Verbot entsprechender Beschäftigungsformen aus.


Zwei Beispiele: Abgeschlossene Praktikumsverträgen müssten eindeutig und nachprüfbar zu Bildungszwecken abgeschlossen werden. Das beinhalte z. B. Ausbildungspläne und den Einsatz entsprechenden Fachpersonals für die Betreuung von PraktikantInnen im Betrieb.

Selbständige müssten über ihre Honorare im Ergebnis mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten gleichgestellt werden. Die Honorarsätze müssten so ausgestaltet werden, dass ein Selbstständiger nach Abzug seiner Sozialversicherung und seiner Einkommenssteuer mindestens die gleichen Nettoentgelte erhält, wie ein abhängig Beschäftigter. Natürlich wären dabei auch Aufwendungen für Urlaub, Krankheit und Weiterbildung zu berücksichtigen.


Was die Ausgestaltung allgemeiner rechtlichen Regelungen angeht, sprach er sich für eine Änderung des Deutschen Arbeitsrechts aus. Das deutsche Arbeitsrecht sei fixiert auf die Arbeitsgerichte. Es gebe 600.000 Verfahren im Jahr.

Dabei würde die Einhaltung des Rechts dem Arbeitgeber überlassen, da in der Regel erst nach dem Ende des Arbeitsvertrags geklagt werde. Die Einhaltung des Rechts müsse aber während der gesamten Dauer des Arbeitsverhältnisses durchgesetzt werden. Möglich sei das z. B. durch eine modernisierte Gewerbeaufsicht, die eine laufende Überprüfung aller Rechtsvorschriften des Arbeitsrechts vornehmen müsse. Dazu gehörte natürlich auch die Einhaltung von Tarifverträgen.

Die Effizienz von Arbeitsgerichtsverfahren würde durch ein Klagerecht der Gewerkschaften für die Einhaltung des Arbeitsrechts verbessert. Wenn Arbeitgeber während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses laufend mit einer Kontrolle oder einem Klagerecht von Gewerkschaften rechnen müssten, entstände für sie selber ein Anreiz, das Arbeitsrecht einzuhalten.


Peter Schulz-Oberschelp
Netzwerk Weiterbildung

Die vollständige Dokumentation über die Arbeitstagung wird Ende 2008 erscheinen.


Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Freiberufler/Selbstständige, Honorar
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 14.04.2009

Quelle: www.netzwerk-weiterbildung.info
Druckdatum: 29.03.2024