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Über Pflicht und Freiwilligkeit bei Weiterbildung diskutieren

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Ekkehard Nuissl von Rein


Schule, eine Berufsausbildung und bis zum Rentenalter derselbe Beruf: Solche Biografien, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich waren, sind heute eher die Seltenheit. Denn eine berufliche Erstausbildung genügt kaum mehr den Ansprüchen der Berufswelt. Technische und globale Entwicklungen generieren einen immer größeren Weiterbildungsbedarf. Wird lebenslanges Lernen also zur Pflicht? Und stimmen vollmundige Bekundungen der Politik über den hohen Stellenwert der Weiterbildung mit der Realität und dem Engagement des Staates überein? Fragen an den Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, Prof. Dr. Dr. h.c. Ekkehard Nuissl von Rein.


Herr Professor Nuissl von Rein, Ihr Institut forscht, wie es um die Weiterbildung in Deutschland – und auch weltweit – steht. Ist die Weiterbildung in Deutschland gut aufgestellt oder müssen wir noch viel von anderen Ländern lernen?


Ekkehard Nuissl von Rein: Wir hatten kürzlich eine internationale Veranstaltung zum Thema Illiteracy, also Analphabetismus, und da konnten wir sehen, dass wir in Deutschland jetzt zwar endlich ein Programm zur Alphabetisierung haben, das auch gut dotiert ist, aber dass Länder wie England und Irland uns sowohl von der Zeit her – sie haben früher angefangen – als auch von den Anstrengungen deutlich voraus sind. Anfang des Jahres haben wir eine Analyse zu allen Aspekten der Weiterbildung gemacht und 25 Trends festgestellt. Einer dieser Trends ist die Tatsache, dass wir seit zehn Jahren in Deutschland ein sinkendes Budget für die Weiterbildung haben, und zwar um zehn Prozent in diesen zehn Jahren. Und das, obwohl alle Welt mindestens genauso lange schon sagt, Weiterbildung ist der Zukunftsbereich. Dabei sinken nicht nur die staatlichen Mittel sondern auch das Engagement der Unternehmen und Privatpersonen ist zurückgegangen. Also: Natürlich können wir von anderen Ländern lernen. Es gibt aber auch Felder, bei denen wir besser sind als andere Länder, zum Beispiel in der Struktur der Volkshochschulen – das macht uns in Europa keiner nach.


Der Begriff „lebenslanges Lernen“ hat Hochkonjunktur. Nach der schulischen und beruflichen Erstausbildung muss also – lebensbegleitend – die Weiterbildung folgen. Lässt sich das unter den von Ihnen geschilderten Umständen überhaupt gewährleisten?

Ekkehard Nuissl von Rein: Eigentlich nicht. Da entsteht eine immer größer werdende Lücke zwischen dem Anspruch, also der Betonung der Wichtigkeit, einerseits und der Realität andererseits. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. Ich war auch sehr gespannt, was der Bildungsgipfel in Bezug auf die Weiterbildung bringen würde und war wie viele andere auch sehr enttäuscht, weil der Staat auf diesem Gipfel überhaupt keine erkennbaren und greifbaren Summen genannt hat, die er in die Weiterbildung investieren will.

In Deutschland gibt es ja sogar eine Pflicht zur Weiterbildung. Für Zuwanderer nämlich, die einen Sprachkurs absolvieren müssen. Ist eine solche Weiterbildungspflicht auch für andere Zielgruppen und Zielsetzungen denkbar oder gar sinnvoll?

Ekkehard Nuissl von Rein: Der Druck auf die Menschen, das lebenslange Lernen zu praktizieren, ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Und ich denke schon, dass eine Diskussion von Zwang und Freiwilligkeit im Bereich des Lernens Erwachsener sehr sinnvoll ist, damit man sieht, welcher moralische und kollektive Druck auf jedem Einzelnen liegt, sich weiterzubilden. Zu einer Pflicht in absehbarer Zeit wird es nicht kommen und sollte es nicht kommen, schon allein deswegen nicht, weil man die Sanktionen nicht hat. Man kann ja die Deutschen nicht aus dem Land weisen, weil sie sich nicht weiterbilden. Aber man muss darüber nachdenken, was real geschieht. Ich finde, es ist eine Augenwischerei, so zu tun, als hätten wir die gleiche Situation wie in den 50ern oder 60ern, als in Sachen Weiterbildung jeder machen konnte, was er wollte. Die Arbeitgeber gucken heute sehr genau, ob sich die Leute fortbilden. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn man sagt, ‚Du musst Dich lebenslang bilden‘ und gleichzeitig die Unterstützung dieses sich Bildens – etwa durch Finanzierung der Angebote oder auch durch steuerliche Absetzbarkeit für den Einzelnen – versagt.

Die Ergebnisse der PISA-Studien machen offensichtlich eins deutlich: Die Schule entlässt Menschen mit Bildungsdefiziten. Es muss also ein funktionierendes System nachschulischer Bildung geben, bei dem nachgeholt werden kann, was bis dahin nicht erreicht wurde: Grundbildung, Schulabschlüsse, Alphabetisierung. Wie stellt sich die Weiterbildung dieser Aufgabe?

Ekkehard Nuissl von Rein: Eine der Grundideen bei Weiterbildung als staatliche Aufgabe ist immer auch die Idee gewesen, Weiterbildung könnte mangelnde Lernleistungen aus der Schule auffangen und kompensieren. Das hat, wenn man alle Statistiken und Zahlen richtig liest, in den ganzen Jahren, seitdem dies untersucht wird, noch nie geklappt. Die Weiterbildung hat immer die gut Gebildeten noch besser gebildet und die schlechter Gebildeten nicht erreicht. Das heißt, sie hat die Schere zwischen gut Gebildeten und weniger gut Gebildeten eher geöffnet als geschlossen. Das ist extrem bitter und für diejenigen, die diese Kompensationsfunktion der Weiterbildung als wichtig einschätzen, ein Menetekel an der Wand. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Weiterbildung, wie sie zurzeit aufgestellt ist, diese PISA-Defizite tatsächlich institutionell und strukturell beseitigen kann. Da müsste sehr viel mehr geschehen, es müssten entsprechende Investitionen in die Weiterbildung getätigt werden auch staatlicherseits, damit sie entsprechend aktiv werden kann. Im Moment kann ich das nicht sehen.

Wird die Weiterbildung trotzdem mittel- und langfristig im gesamten Bildungssektor an Bedeutung gewinnen?

Ekkehard Nuissl von Rein: Auf jeden Fall! Es gibt objektiv überhaupt keinen Zweifel daran, dass es so sein muss und so sein wird. Sie hat ja in der Vergangenheit auch unentwegt an Bedeutung gewonnen. In den 50er Jahren gab es einmal eine Befragung, was die Bevölkerung eigentlich von der Erwachsenenbildung hält und da sagten ungefähr vier Fünftel der Befragten ‚So ein Quatsch, die müssen schon ziemlich schlecht drauf sein, wenn sie Weiterbildung brauchen’, und heute sind die Befragungsergebnisse genau umgekehrt. Heute sagen vier Fünftel der Bevölkerung, ‚Wenn einer keine Weiterbildung macht, muss er schon ziemlich daneben sein‘. Das gesamte gesellschaftliche Klima heißt inzwischen: Weiterbildung muss sein, Weiterbildung ist wichtig, Weiterbildung machen wir auch gern. Und die Voraussetzung dafür, dass dieser Bereich sich weiterentwickelt, ist schon deshalb gut. Gut ist die Voraussetzung auch deshalb, weil im Weiterbildungsbereich eine Menge unglaublich engagierter und aktiver Menschen mit unglaublich guten Ideen arbeiten. Ich bin immer wieder erstaunt, unter welchen Bedingungen diese Leute arbeiten, wie kreativ, innovativ und engagiert sie trotz alledem sind. Das ist genial! Mir ist um die Zukunft der Weiterbildung überhaupt nicht bange. Nur, wenn man bestimmte gesellschaftliche Funktionen von ihr erwartet, die über das hinausgehen, was sie im Moment schon in hohem Maße leistet, dann muss man einfach mehr investieren.


Quelle: themendienst 1, didacta 2009


Weitere Informationen zur didacta finden Sie auf der Homepage der didacta – die Bildungsmesse und auf bildungsklick.de.


Schlagworte zu diesem Beitrag: Volkshochschule
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 14.04.2009