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Anschwellender Lamentismus oder renitenter Widerstand:

Konsequenzen des Zerfalls des Sozialkonsenses für die Bildungsarbeit in politischer Perspektive–eine Diskurswende?

Nach Wahltagen, nachdem wieder einmal das ganze Desaster der „Postdemokratie“ – die massenmediale Überformung, die Dominanz der Verbandseinflüsse und die Angleichung der Parteien – deutlich geworden ist, werde ich immer besonders radikal. Wir wissen mittlerweile, dass die Ressourcen für politische Aufklärungsarbeit nicht wachsen werden. Dass „Das Wir entscheidet“, so die im Regierungsprogramm der SPD zur Floskel degenerierte Formel, hat scheinbar verloren. Das könnte Anlass sein, den schon lange grassierenden Politik-Lamentismus zu stärken. Auch vormals ‚linke‘ Katastrophenphilosophen arbeiten mittlerweile ‚rechten‘ Ideologieproduzenten zu: Sie betreiben gemeinsam die Abschaffung der Zukunft. Es scheint nur noch die Märkte und die von ihnen ausstrahlenden Mächte zu geben, die eingebettet in der alltäglichen Lebenswelt des Warentauschs und fest verankert im ‚gesunden Menschenverstand‘ eine ‚Neue Selbstverständlichkeit‘ darstellen.

Dass dem nicht so ist, ist meine Grundüberzeugung. Aber dann ist die sich sofort anschließende Frage: Woher nehmen wir eine solche Gewissheit? Wie begründen wir sie? Sind das nicht nur Glaubensbekenntnisse einiger Unbelehrbarer, die die Zeichen der Zeit nicht wahrnehmen wollen und ihre alten Bilder weitermalen? Wie können wir eine Diskurswende bzw. alternative Diskurse vorbereiten?

Wenn man die vorherrschenden Leitlinien ökonomischen und auch politischen Handelns betrachtet, muss man sich wundern, dass es so etwas wie Gemeinsinn über-haupt noch gibt: Warum engagieren sich Menschen immer noch bei der Feuerwehr, beim Roten Kreuz, aber auch in Gewerkschaften und Parteien? Auf’s Prinzip zu-rückgeführt liegt Gemeinnützigkeit quer zu den Marktgesetzen – lässt sich von daher nicht begründen, sondern nur gegen sie. Woher aber nehmen wir Argumente des Widerstands politischer Urteilskraft gegen die Vorherrschaft ökonomischen Denkens?

Wohlfahrt oder Gerechtigkeit oder gar Menschlichkeit klingen wie merkwürdige Begriffe aus einer moralischen Tradition, welche sich scheinbar unaufhaltsam im Zusammenbruch befindet. In einer Geisteshaltung der Gier und des Geizes – nebenbei bemerkt: zwei der sieben Todsünden –, welche beherrscht ist vom Totalitarismus des Marktdenkens, haben solche moralischen Prinzipien anscheinend keinen Platz mehr.

Das Menschenbild, das sich als Grundlage für ökonomisches und politisches Handeln immer mehr ausbreitet ist das des rationalen, kalkulierenden Individuums, das sich leiten lässt von egoistischen Nutzenkalkülen und kurzfristigen Profiterwartungen. Moralanforderungen werden demgemäß zu irrationalen Handlungsbeschränkungen für diejenigen, die sich noch an Regeln halten und so etwas Skurriles wie Menschlichkeit nicht aufgeben wollen.

Dann gälte also: ‚Moral ist etwas für die Deppen‘. Nur diese lassen sich durch skurrile Irrationalität oder Dummheit davon abhalten, ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Wenn das gültig wäre, wäre der gesellschaftliche Umgang Problemkonstellationen, z.B. mit Arbeitslosigkeit lediglich ein Problem der Kostenkalkulation für alter-native Befriedungsstrategien durch Polizei und Justiz und des Austastens der Grenzen politischer Risiken. Politische Bildung wäre nur noch Mittel vorauseilender Befriedung.

Wenn man dem widerspricht, steht man fast hoffnungslos im Abseits. Die hegemoniale Denkbewegung geht zwanghaft in die vorgegebene Richtung. Wenn man die Äußerungen der ökonomischen und politischen Akteure zusammensieht, so sind sie insgesamt gekennzeichnet durch individualistische Reduktionen des Menschen letztlich auf das alte Modell des ‚homo oeconomicus“, der seinen Gewinn in Kosten-Nutzen-Relationen kalkuliert. Aber nochmals: Warum engagieren wir uns in Vereinen und Hilfsorganisationen? Woher kommt so was Unsinniges wie Hilfsbereitschaft? Warum streben wir nach Anerkennung? Warum können wir überhaupt noch jemand vertrauen? Warum entwickeln wir immer noch ein Gefühl von Gerechtigkeit?

Erstaunlicherweise hat ausgerechnet die Bertelsmann-Stiftung gerade eine Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zu diesen Themen vorgelegt. Indikatoren sind: Bestehen sozialer Netze, Vertrauen in die Mitmenschen, Akzeptanz von Diversität, Identifikation mit dem Gemeinwesen, Vertrauen in die Institutionen, Gerechtigkeitsempfinden, Solidarität und Hilfsbereitschaft, Anerkennung sozialer Regeln, gesellschaftliche Teilhabe (Bertelsmann Stiftung 2013, S.5). Deutschland liegt im Mittelfeld zwischen Dänemark und Rumänien.

In einem Klima rationaler Korruption wäre Moral tatsächlich nur etwas für die Deppen. Motor, der zum Glaubensbekenntnis erhobenen Marktwirtschaft ist die Konkurrenz. Es kommt – so scheint es – immer und überall darauf an, besser zu sein als die anderen, d.h. rücksichtsloser, eigennütziger, selbstbezüglicher. In Gefolge des Neoliberalismus als ideologischer Rechtfertigung wächst die Brutalität, die den Alltag kennzeichnet, wie auch die Korruption, die in vielen Ländern bis hinauf in die Kabinette und auf die Kanzeln reicht – in die obersten Konzernetagen und Bankentürme sowieso.

Ich werde vier Denkschritte verfolgen: Erstens frage ich nochmals nach den Konsequenzen, die sich aus weltweiter Konkurrenz ergeben; zweitens suche ich nach Möglichkeiten alternativer Strategien; drittens bemühe ich mich, Grundlagen solcher Positionen zu begründen, viertens geht es mir um eine Basis einer reflektierten politischen Bildung.


1. Konsequenzen weltweiter Konkurrenz

Die Konsequenzen des hegemonialen Neoliberalismus sind absehbar: Wenn Märkte international wirklich ‚frei‘ werden, zwingen sie zu weltweiten Investitionsstrategien, zum Wegzug von Kapital und resultierender Destruktion von Arbeitsplätzen. Die globalen, streunenden und zudem kurzfristigen Fluktuationen des Geldes zerstören die territorialen Institutionen der einzelnen Staaten und die historisch gewachsenen Solidarsysteme. Soziale Konstruktionen wie die labilen Wohlfahrtssysteme, die sich erst in langen Verhandlungen und Machtkämpfen in den eher unwahrscheinlichen Gleichgewichten des Sozialstaates etabliert haben, sind weltweit ‚freien‘ Märkten schutzlos ausgeliefert. Die Dynamik einer apersonalen, scheinbar sachlichen und anonymen Regulation ist gegenüber demokratischen, sozialen oder gar moralischen Prinzipien rücksichtslos. Das beantwortet dann auch die Frage, ob globale Wirtschaft und nationale Sozialpolitik gleichzeitig funktionieren können. Die langfristige Antwort ist: Nein, no, non, njet, völlig unmöglich.

Auch Deutschland – nicht nur Griechenland, oder Portugal, oder Spanien … – wird nicht in der Lage sein, seinen gegenwärtigen Sozialvertrag aufrecht zu halten und sich zugleich als Exportweltmeister im System der Weltwirtschaft zu behaupten. Das ist der Hintergrund für die immer wieder vorgetragene obszöne These, wir könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten; gleichzeitig wird zugunsten von Banken mit Kreditsicherheiten in Milliardenhöhe operiert.

Ein Weitergehen auf diesem Weg führt letztlich ins Bodenlose. Je mehr sich die deutsche Wirtschaft auf den Markt des Exports von Waren und Dienstleistungen ziehen lässt, desto stärker muss sie sich den auf dem Weltmarkt herrschenden Bedingungen anpassen und desto stärker schlagen Weltmarktschwankungen auf den Binnenmarkt durch. Aus dieser Sicht ist der Abbau des Sozialstaates zwangsläufig und unumkehrbar.

Der Sozialstaat degeneriert zum Konkurrenzstaat. Es ist Teil herrschender Ideologie, diese Entwicklungsrichtung als unausweichlich darzustellen. Bei genauem Hinsehen ist der scheinbare Sachzwang der Weltmärkte aber auch Resultat von Politik der zentralen Akteure – der internationalen Banken, der transnationalen Konzerne und auch der nationalen Regierungen, die durch Deregulierung der internationalen Geldströme und Handelswege dem Spekulationsdruck auf den Kapitalmärkten nicht nur nachgegeben, sondern ihn überhaupt erst ermöglicht haben. Dadurch wurden die fatalen Kapitalstrategien einer Ausnutzung unterschiedlicher nationaler Sozialstandards bei internationalen Investitions- und Produktionsentscheidungen überhaupt erst möglich.

Aber bis hier scheint das alles, die vorgetragenen Argumentation, nur Fortsetzung des von mir kritisierten Lamentismus. Was kann dann geschehen, um eine globale Sozialkrise zu verhindern und das Politische als Entscheidungsfeld über das Gemeinwesen zu retten?


2. Alternative Strategien für Arbeit und Bildung

Es gibt gegenüber dem Marktradikalismus gegenläufige Tendenzen und daraus entstehende Alternativen, welche die Hoffnung begründen: Das neoliberal begründete System wird angesichts der demographischen und technischen Vorhersagen über die Zukunft eines weltweiten ‚freien‘ Marktsystems nicht ewig halten, und es wird einen backlash gegen den Kapitalismus des zügellosen Marktes geben.

Es ist zumindest möglich und in Ansätzen bereits feststellbar, dass nationale Politiken wieder die Oberhand gewinnen werden, welche auf mehr Ordnung, mehr Kontrolle und mehr Schutz setzen. Es beginnt in Graswurzeln eine Denkweise wieder stärker zu werden, welche gegen weitere globale Entgrenzung des Güter- und Kapitalverkehrs angeht – siehe attac. Die Globalisierung ökonomischer Aktivitäten ist keine unaufhaltsame Tendenz, sondern selber Ergebnis politischer Entscheidungen.

Es existieren Handlungsspielräume, in denen geprüft werden kann, wie der ökonomische Wildwuchs in politische Kontrolle mindestens bei supranationaler Kooperation oder sogar in nationaler Verfügung zurückgeholt werden kann, um Schaden für Arbeit, soziale Sicherheit und die Umwelt abzuwenden.

Dies bedeutet auch eine Herauslösung der Sozialstaatspolitik aus der neoliberalen Standort-Logik. Es ist notwendig, dies zumindest als Möglichkeit zu denken, um sich deutlich zu machen, dass der gegenwärtig immer noch mächtiger werdende „globale Sektor“ keineswegs automatisch alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen muss. Der ‚Standort‘-Druck ist allein diesem Sektor geschuldet, der unter Weltmarktkonkurrenz auf globalen Märkten arbeitet. Das Fatale ist, dass er ‚freigesetzt‘, besser gesagt entfesselt, jede andere Form des Wirtschaftens zerstört. Regionale Märkte wer-den zerschlagen, endogene Kulturen geopfert.

Wenn man das erkannt hat, muss notwendig nach anderen Möglichkeiten gesucht werden. Es ist hoffentlich deutlich geworden, dass es durchaus Alternativen gäbe. Warum greifen sie dann aber nicht oder bleiben zumindest marginal?


3. Grundlegende Positionen und alternative Menschenbilder

Die Antwort ist, dass die Alternativen zu spät einsetzen. Sie akzeptieren weitgehend ungefragt eine Logik ökonomischen Handelns, aus der zwangsläufig eine Dominanz der Ökonomie über die Politik und die Moral resultiert. Nochmals: Die traditionelle Ökonomik unterstellt, dass soziale Ordnung sich über die unsichtbare Hand des Marktes herstellt. Sie setzt auf Eigennutz und Rationalität der Individuen. Der Markt vermittelt die individuellen Nutzenkalküle über die Preise. Die sich ergebenden Gleichgewichte sorgen für die Beschränkungen individuellen Handelns und führen nach diesem Modell soziale Ordnung herbei.

Diese Denkweise setzt sich, gegenwärtig wieder einmal verstärkt, als Grundmuster des menschlichen Handelns durch, in dem alles Handeln grundsätzlich als rationale Entscheidung in Knappheitssituationen betrachtet wird. Der homo oeconomicus optimiert mit unbarmherziger Rationalität und unfehlbarer Präzision seinen Gewinn. Dies kennzeichnet einen „ökonomischen Imperialismus“, der gleichzeitig die Ökonomie der Marktwirtschaft zum grundlegenden moralischen Prinzip erhebt. Der Prophet der „Neoklassik“ Milton Friedman hat dies in der Überschrift seines bereits 1970 im „New York Times Magazin“ veröffentlichten Artikels zum Ausdruck gebracht „The social responsibility of business is to increase it´s profits“.

Nun hat sich aber in der Wirklichkeit der Unternehmen in der Marktwirtschaft gezeigt, dass die rigorose und konsequente Verfolgung individueller Interessen organisatorisch wie sozial und ökologisch unerwünschte bis katastrophale Folgen produziert. Das grenzenlose Erwerbsstreben erzeugt einen Vektor der Maßlosigkeit und ein Klima der Raffgier. Die Folge ist Zerstörung sozialen Nutzens durch egoistische Interessen. Der kollektiv beste Zustand wird nicht erreicht, wenn die Akteure ausschließlich individuellen Präferenzen folgen.

Alternativen werden aber nur realistisch in einem grundlegenden Diskurswechsel. An den Dilemmata kollektiver Rationalität kann die Beschränktheit des Rationalitätstyps homo oeconomicus gezeigt werden: Ohne die Herausbildung sozialer Normen ist auch ökonomisches Handeln letztlich nicht möglich. Überall sind implizite Handlungsordnungen wirksam, welche die Wirksamkeit von Organisationen überhaupt erst herstellen. Kommunikation und Koordination wären ohne solche Ordnungsmuster überhaupt nicht möglich. Dies hat der amerikanische Ökonom Granovetter mit dem Begriff der „sozialen Eingebundenheit“ gekennzeichnet. Dies ist nichts anderes als der einfache – aber in den neoklassischen Modellen verdrängte – Gedanke, dass die Wirtschaft ein Subsystem einer viel umfassenderen Totalität von Gesellschaft ist. Während das neoklassische Modell der Ökonomik eine absolute Individualität und instrumentelle Rationalität voraussetzt, ist menschliches Handeln immer schon ein-gebunden in kulturelle Konstellationen und politische Kontexte. Eine Gesellschaft, die konsequent auf atomisierte, isolierte und ihren egoistischen Interessen folgende Individuen setzt, untergräbt ihre eigenen Grundlagen.

Die radikale Durchsetzung eines sozial entpflichteten Individualismus muss notwendig zu sozialen Krisen und einer Erosion von Demokratie führen. Charles Taylor hat in seiner grundlegenden Arbeit „Quellen des Selbst“ gezeigt, dass sich menschliches Handeln in unseren Gesellschaften immer moralisch konstituiert, d.h. es gibt unvermeidliche Rahmenbindungen für menschliche Handlungsordnungen. Diese entfalten einen Raum, in dem sich das Selbst verortet. Dieser ist selbstverständlich kulturell gefärbt. Das punktuelle Individuum, wie es in den Modellen ökonomischer Rationalität unterstellt wird, ist demgemäß eine Fiktion des späten Kapitalismus. Aber sind vielleicht Menschen doch anderes als kalte, nur auf ein Ziel programmierte Rechner, die nichts anderes als ihren kurzfristigen Nutzen zu maximieren?

Diese Frage so zu stellen, heißt sie zu bejahen. Entsprechend ist es notwendig, eine Idee wieder zu verstärken und rückzugewinnen, in welcher Verantwortung und Menschlichkeit wieder deutlich werden. Wenn alle nur noch Kalkulatoren wären, würde die Gesellschaft zerfallen. Auch die skrupellosesten Finanzmakler müssen unterstellen, dass andere sich an die Regeln halten. Sie zu durchbrechen, lohnt sich nur im Einzelfall: dann rechnet es sich, Verträge zu kippen, zu unterschlagen, zu stehlen, zu rauben oder zu morden – oder das alles für sich von anderen ausführen zu lassen. Aber selbst Räuberbanden haben ihre Moral: sich nicht gegenseitig umzubringen, sich gegenseitig nicht zu bestehlen, sich die Freundin nicht auszuspannen. Die Mafia ist eine intern extrem moralische Gesellschaft.

Die intensiv geführte Debatte über moralische Grundlagen moderner Gesellschaften zeigt, dass dieses Problem nicht mehr zu umgehen ist. Stichwörter wie Eingebundenheit, oder embeddedness oder Ligaturen oder Zusammenhalt kennzeichnen die Aktualität des Problems.

Erst in einem solchen Kontext gibt es auch wieder Orientierungen bezogen auf die Frage von Bildung, wenn damit die Selbstentfaltung des Individuums in einer Gesellschaft gemeint ist. Es geht um die Chancen und Horizonte von Identität.


4. Politisch reflektierte Bildung

Eine reflektierte, politisch intendierte Bildung steht aber noch vor einem weiteren Problem: Die öffentlich definierte und sanktionierte Realitätsmacht der vorherrschenden Wirklichkeit als Geldkreisläufe hat nicht nur die Gedanken erfasst, sondern verengt vorab schon das Denken auf Markgrößen, das beruht auf der scheinbaren Gleichheit und Freiheit des Tausches.

Das bedrückende an der geistigen Situation der Zeit liegt darin, dass alle Auswege verbarrikadiert erscheinen; wer Krisenlösungen außerhalb des Geldsektors ins Auge fasst, gerät leicht in Verdacht, an den eigentlichen Problemen vorbei zu argumentieren. „Es gibt keine Alternative!“ ist das neue Glaubensbekenntnis. Worin besteht nun die fantastische Macht des Geldes? Warum läuft alles einfach weiter, so wie bisher? Warum können die dauernd erweiterten Schutzschirme für die Banken weiter mit denselben Abstraktionen und Regeln arbeiten, nach denen die Spekulanten und die Glücksritter der Finanzkrise ihr Unwesen getrieben haben und weiter treiben.

Ein knapper Hinweis auf den Hintergrund: Karl Marx hat die Kopplung zwischen Kapitalverhältnis und Bewusstseinsstrukturen untersucht; man kann die These wagen, dass der Kapitalismus in seiner Form als globalisierter Finanzkapitalismus heute zum ersten Mal in seiner Geschichte so funktioniert, wie er ihn im „Kapital“ beschrieben hat.

Marx diskutiert die Frage nach dem sich als selbstverständlich darstellenden und undurchtrennbaren Schein der Markprozesse unter dem Stichwort des „Warenfetischismus“. Dies erklärt die Verfangenheit der Menschen in einer Warenwelt, der sie selbst angehören. Der Kerngedanke lautet: den Produzenten erscheinen die von ihnen produzierten Waren wie ein Fetisch, als natürliche Dinge obwohl sie Vergegenständlichungen ihrer gesellschaftlichen Arbeit sind; es werden ihnen Kräfte zugeschrieben – das meint Fetisch – die sie nicht besitzen: gerechter Tausch, Konsum-befriedigung oder Glückserfüllung.

Der Warenfetisch besteht also darin, dass den Produkten menschlicher Arbeit die Eigenschaft, Ware zu sein, als dingliche, ‚natürliche‘ Eigenschaften zugesprochen wird, und dass sich dabei verbirgt, dass es sich in Wirklichkeit um gesellschaftliche Zuschreibungen handelt. Es entstehen Fantasiewelten bis hin zur fast vollständigen Abkopplung der Gebrauchswerte von der Welt des Geldes. Der Warenfetisch potenziert sich zum Geldfetisch. Gesellschaftliche Verhältnisse – so die Quintessenz – unterliegen der Verdinglichung, erreichen Selbstverständlichkeit und so Unantastbarkeit. Es gibt eben – scheinbar – keine Alternative.

In der Warenproduktion haben die Verkehrungen des Bewusstseins ihre Basis. Sie können deshalb auch nicht einfach durch Aufklärung, Erkenntnis und politischen Ein-fluss beseitigt werden. Bildung enthält selbst die Kerne der Gerechtigkeitsillusion in der Leistungsideologie der unterstellten Meritokratie, der Vorstellung, die Zugänge zu den oberen Rängen der Gesellschaft würden durch Bildungsleistungen vergeben.

Was ist unter den Bedingungen des Geldfetischismus überhaupt noch Realität? Wir sprechen heute über Milliarden wie noch vor zehn Jahren über Millionen. Und es geht weiter, schon ist die Rede von mehreren Billionen; mittlerweile hat auch der Export die Billion erreicht. Manchmal kommt es mir vor, dass die Geldspekulationen in einer offenen Bedürfnisspirale ein Suchtverhalten signalisieren. In der fantastischen Macht des Geldes stecken Momente der Rastlosigkeit, der Endlosigkeit und der Unerfüllbarkeit. Ergebnis ist also: Wir sind selbst Teil des Verblendungszusammen-hangs, der über uns herrscht.
Wo aber bricht die Warenillusion auf? Wenn wir dies erzwingen könnten, hätten wir es schon lange gemacht. Festzustellen ist aber zumindest, dass immer wieder Widerstandspotentiale entstehen, die sich nicht unterordnen und einfangen lassen. Versuche, diese zu nutzen für vorgegebene politische Strategien, führen jedoch zwangsläufig zu ihrem Ende. Wir haben immer wieder mit großer Sympathie auf „Neue soziale Bewegungen“ geschaut und mit ihnen gehofft, dass sie sich zu langfristigen Gegenbewegungen entwickeln. Meist hat sich das als Illusion erwiesen oder ist durch die hegemonialen Strukturen aufgesaugt worden.

Vielleicht jedoch ist es schon falsch, Organisationen oder Initiativen unter den Druck zu setzen, in ihnen verkörpere sich das Subjekt der Geschichte. Es gibt dieses Subjekt als benennbares Akteur oder Organisation nicht. Das ist auch Ausgangspunkt der neuen Schrift von Michael Hardt und Antonio Negri „Demokratie“ (2013). Michael Hardt, Literaturwissenschaftler der Duce University Durham N.C., und der große alte Mann des italienischen Linksradikalismus Antonio Negri, Professor für Staatsphilosophie an der Universität Padua, 1969 Gründer der Gruppe „Potere Operaio“, 1979 verurteil als „Kopf“ der „Roten Brigaden“, geflohen nach Frankreich, jahrelang im Gefängnis, heute in Paris und Rom lebend – die beiden haben neu ein kleines aufregendes „Manifest“ vorgelegt, das keines sein will. „Manifeste verkünden Idealwelten und beschwören ein geisterhaftes Subjekt, das uns dorthin führen soll“ (S. 7). Dem-gegenüber ist es eine Hauptaussage von Hardt/Negri, dass es feste Grundsätze und Leitlinien nicht gibt. „In ihren Rebellionen muss die Multitude lernen, den Schritt von der Verkündung zur Begründung einer neuen Gesellschaft selbst zu gehen“ (ebd.).

„Demokratie!“ ist entstanden aus dem Kontext der Untersuchung des „Empire“ (2001) und der „Multitude“ (2004), in denen eine neue, globale Form der Souveränität als Tendenz einer sich herausbildenden politischen Weltordnung analysiert worden ist: Auf der einen Seite umspannt das „Empire“ mit seinen Netzwerken von Hierarchien den Globus. Andererseits entstehen neue Verbindungen des Zusammenwirkens und der Zusammenarbeit, die sich über Länder und Kontinente hinweg er-strecken und auf zahllosen Interaktionen und Initiativen fußen. Darin steckt für die „Multitude“ die Möglichkeit, Besonderheiten zu bewahren und gleichzeitig das Gemeinsame zu entdecken, das es erlaubt, miteinander zu kommunizieren und gemeinsam zu handeln.

Die Initiativen in Tunesien, Ägypten; Bahrain, Jemen, Tunesien und Syrien, die Demonstranten in Wisconsin und Detroit, die „indignados“ in Madrid und Barcelona, „occupy“ in der Wall Street u.a. sind für Hardt/Negri Indikatoren dafür, dass Alternativen ergriffen aber auch immer wieder umgedreht werden können. Alle diese Bewegungen haben nach Ansicht von Hardt/Negri Gemeinsamkeiten, die sie in der Einmaligkeit sehen, in der Führerlosigkeit und im Kampf für Gemeineigentum. (S. 10-12).

Die globalen Kontexte, in denen die Proteste aufkamen, zwingen die Menschen in vorgegebene „Subjektpositionen“ (Anm. S.13). Dabei handelt es sich durchweg um entkräftete Subjekte, die keinen Zugang zu ihrer politischen Handlungsfähigkeit haben“ (ebd.). Aber wir können uns – so Hardt/Negri – der Unterdrückung verweigern, sie in ihr Gegenteil verkehren und Macht zurückerobern. Politisch mündet das – sicherlich problematisch – in einer Ablehnung der repräsentativen Demokratie und die der Schaffung neuer Formen der demokratischen Beteiligung. (S.14). „Politisches Handeln in der Krise“ (Kapitel 1) setzt voraus, die vier Rollen genauer zu begreifen:

„Die Vorherrschaft des Finanzwesens und der Banken hat die ‚Verschuldeten‘ geschaffen. Die Kontrolle über Informations- und Kommunikationsnetze hat die „Vernetzten‘ erzeugt. Das Regime der Überwachung und der allgemeine Ausnahmezustand haben Subjekte hervorgebracht, die in Angst leben und sich nach Schutz sehnen: die ‚Verwahrten‘. Und die Korruption der Demokratie hat sonderbare, entpolitisierte Subjekte geschaffen: ‚die Vertretenen‘“ (S. 15). Bleibt doch nur die Resignation?

Nein: Trotz alledem – mein Lieblingswort – werden die Zwänge auf- und umgebrochen: „Wir sind allein und ohnmächtig. Aber wenn wir uns umsehen, stellen wir fest, dass die Krise auch neue Formen der Gemeinschaft hervorbringt“ (S. 40). Die Grundentscheidung besteht dann nach Hardt/Negri darin, uns zu Andern hin zu öffnen. Handlungsmöglichkeiten einer „Rebellion in der Krise“ (Kapitel 2) sind möglich: „Sie beginnen mit der Entscheidung, mit dem Bestehenden zu brechen und münden in der Absicht, gemeinsam mit andern zu handeln“ (S. 41).

Um allerdings den Zugang zu Gemeinschaftsgütern, die gerechte Verteilung des Reichtums und die Nachhaltigkeit des Gemeinsamen zu gewährleisten, plädieren Hardt/Negri für mehr direkte Demokratie – begründet in einer „Verfassung für das Gemeinsame“ (Kapitel 3). „Protest gegen die vom Finanzkapitalismus geschaffenen Ungleichheiten weckt die Forderung nach dem freien Zugang zu Gemeinschaftsgütern und deren Demokratisierung (S.63).

Man kann dies alles als „Romantisches Theorie-Brimborium“ (Frankfurter Rundschau 1.3.2013) diffamieren. Es herrscht ein prophetischer, teils eschatologischer, atemloser Grundton. Hinter dem Pathos der großen Wörter versteckt sich zugegebenermaßen auch Unsicherheit. Aber Hardt und Negri lassen keinen Zweifel daran, dass sie nur Anstöße geben können, dass sie nach Graswurzeln möglicher Entwicklung suchen. Das Beharren darauf, dass eine andere Welt möglich sei, öffnet erst Handlungsspielräume und gibt alltäglicher Praxis eine orientierende Tendenz.

Das hat unmittelbare Konsequenzen für die politische Bildung. Demokratie ist – wie Oskar Negt immer wieder betont – die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss; alle anderen Ordnungen reflektieren nicht auf urteilsfähige Beteiligung der Menschen am Gemeinwesen; vielmehr ist es, wie man heute allenthalben wahrnehmen kann, sogar störend für Herrschaftssysteme, wenn sich die Bevölkerung aktiv einmischt. Für Demokratien kann das aber nicht gelten. Hardt/Negri gehen in ähnliche Richtung:

„Wissen ist offenkundig eine notwendige Voraussetzung für die demokratische Beteiligung und die gemeinsame Verwaltung des common. Vor allem sollten wir die Komplexität des Wissens nicht überschätzen, das erforderlich ist, um an politischen Entscheidungen über gesellschaftliche Fragen teilzunehmen. … Wir müssen heute die Neugierde nach dieser Art von Wissen wieder wecken und Freude an der politischen Beteiligung neu entdecken“ (S. 80/81). Die Frage nach der Organisation des politischen Prozesses bezogen auf einfache Fragen ist wichtiges Thema nicht nur der Initiativen: „Wie können wir eine Versammlung durchführen? Wie können wir mit unterschiedlichen Standpunkten umgehen? Wie können wir demokratische Entscheidungen treffen“ (S.120).

Nicht die Erweiterung der Willkürfreiheit der Individuen, sondern der Schutz der Gemeinschaftsbeziehungen ist also das Basisproblem einer zeitgenössischen Ethik als Grundlage für arbeits- und bildungsbezogenes Handeln. Es handelt es sich aber letztlich um ein uraltes Problem.

Dazu sei verwiesen auf die Tatsache, dass die ‚alten Griechen‘ diejenigen, die sich nicht um das politische Gemeinwesen kümmerten, ‚idiotes‘ nannten. Ein Wort, das isoliert lebende Personen bezeichnet, die die anderen nicht anerkennen und sich der Verantwortung entziehen, die nur das eigene Interesse im Kopf haben. Daraus ergibt sich zwingend der Schluss: Wer glaubt, Moral sei etwas für die Deppen, ist ein Idiot. Erst von dieser Grundlage her – soweit müssen wir zurückgehen – können wir, eine Diskurswende in der politischen Bildung neu denken.


Hinweise:
Bertelsmann Stiftung: Gesellschaftlicher Zusammenhalt im internationalen Vergleich. Bielefeld 2013
Hardt, Michael/Negri; Antonio: Demokratie! Frankfurt/M. 2013
Savater, Fernando: Sei kein Idiot. Politik für die Erwachsenen von morgen. Frank-furt/M. 1994
Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Frankfurt/M. 1996


Von Peter Faulstich (23/9/2013)
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors


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Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 06.12.2013