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Beruf-Bildungs-Perspektiven 2014

Wie lassen sich die schulische, duale und wissenschaftliche berufliche Ausbildung miteinander verbinden?

Konvergenzstrategie für eine gemeinsame Weiterentwicklung betrieblicher, schulischer und hochschulischer Berufsbildung


Der Beraterkreis der Gewerkschaften IG Metall und ver.di geht davon aus, dass wir über Berufsbildung sinnvoll nur reden können, wenn wir die Perspektiven der Arbeit, konkret der Erwerbsarbeit im Auge behalten: Wir koppeln das Konzept „Gute Arbeit“ mit der Devise. „Ohne Berufe geht es nicht!“. Arbeit in der Form des Berufs sichert den Beschäftigten noch am ehesten Arbeitsplatz und Einkommen und bietet die Möglichkeit, sich in der Arbeit wiederzufinden und zu verwirklichen.

Ich pointiere hier die Aspekte, die ich selbst als für die weitere Diskussion besonders wichtig ansehe. Dabei bediene ich mich vielfach bei den Aussagen des Beraterkreises. Ich erläutere fünf Thesen:
  1. Grob vereinfacht gibt es bezogen auf die Tendenzen des Arbeitseinsatzes eine Entwicklungsalternative: Gegen die vorherrschende Strategie der „Employability“, die einhergeht mit einer weiteren Zerfaserung und Zersplitterung von Qualifikation und Beschäftigung setzen wir „Erweiterte Beruflichkeit“, die abzielt auf breite Berufszuschnitte als Mindestvoraussetzungen für eine entfaltungsförderliche, angemessene, offene und vorausschauende Arbeitsgestaltung, eine erweiterte Möglichkeit sozialer Identität in der Arbeit, eine demokratische Beteiligungsfähigkeit für Mitbestimmung in Staat und Gesellschaft

  2. Diese Tendenzen ziehen sich durch alle Teilsysteme beruflicher Bildung – bis hin zu den Hochschulen. Durch die Bachelorisierung sind die Hochschulen insgesamt zwar in Bewegung gekommen. Gleichzeitig aber wurde der Bezug zur Berufspraxis selbst dort, wo er bislang ansatzweise gegeben war eher noch gefährdet. Zur gleichen Zeit wird die „duale Berufsausbildung“ als Erfolgsmodell präsentiert, das in die ganze Welt exportiert werden soll.

  3. Wir betonen deshalb immer wieder die Notwendigkeit einer integrierten, für alle zugänglichen, staatlich verantworteten und rechtlich verankerten beruflichen Bildung, die die traditionelle Trennung von „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung überwindet: Integration ist das zentrale Reformproblem des Bildungssystems in Deutschland.

  4. Grundlage einer Strategie der Integration sind die Entwicklung eines wissensbasierten reflexiven Handlungskonzepts für die traditionellen Institutionen beruflicher Ausbildung und einer stärkeren Erfahrungsbezogenheit des hochschulischen Studiums.

  5. Daraus folgt: die Sackgassen bestehender Trennungen der kaum noch zu überschauenden konkurrierenden Bildungswege müssen durch auf dem Prinzip der Beruflichkeit aufbauende, allen ihren Bereichen gemeinsame Leitlinien einer integrierten und auf den ganzen Lebenslauf bezogenen beruflichen Bildung zunächst geöffnet und schließlich beseitigt werden. Dabei ist uns bewusst, dass sich eine Konvergenzstrategie, wie wir sie im Unterschied zu den Gesamtentwürfen der 1970er Jahre favorisieren, nicht von selbst durchsetzt. Sie bedarf sich gegenseitig stützender bildungs- und arbeitspolitischer Initiativen und Aktionen, einer tragenden Reformperspektive – und eines langen Atems.

1 „Employability“ gegen „Erweiterte Beruflichkeit“: Zwei konkurrierende Prinzipien


Die Wachstumsstrategie „Europa 2020“ der EU setzt auf das anglo-amerikanische Arbeitsmarkt-Paradigma der „Employability“ , das auf anderen arbeitskulturellen Wurzeln fußt als das deutsche Modell der Beruflichkeit, nämlich auf einem Marktradikalismus ohne die Schranken, wie sie nach dem 2. Weltkrieg als „Soziale Marktwirtschaft“ aufgebaut worden sind.

„Employability“ hat als Arbeitseinsatzform ihren Siegeszug durch die europäische Beschäftigungs- und Berufsbildungspolitik angetreten. Wir setzen dem in einer kontrastiven Perspektive „Erweiterte Beruflichkeit“ entgegen.


1.1 Wohin führt „Beschäftigungsfähigkeit“?


Ausgangspunkt der Argumentation sind alternative Strategien des Arbeitseinsatzes im Verhältnis von Technik, Personal und Organisation. „Employability“, mit „Beschäftigungsfähigkeit“ übersetzt, meint eben nicht, wie das vor allem in Festtagsreden und Glanzpapierbroschüren immer wieder betont wird, Beschäftigten und Bewerbern umfassende Bildung für Berufs- und Lebenswelt zu vermitteln, die sie für sinnvolle Arbeit befähigt und dazu verhilft, ihre Gestaltungs- und Entfaltungspotentiale zu entwickeln.

„Employability“ heißt im Klartext Einsatzfähigkeit, die „passgenaue“ Zuschneidung des individuellen „Humankapitals“ auf die partialisierten Bedarfe der jeweiligen, gegebenenfalls auch nur potentiellen „Beschäftiger“ – wobei das Risiko fehlender „Passung“ den Arbeitsuchenden überantwortet wird. Es geht um ein Beschäftigungssystem, das „atmende“ Belegschaften schafft, wie es zynisch heißt, und in dem das dem unmittelbaren betrieblichen Bedarf dienende „Hire and Fire“ zum Grundsatz wird. Um diesen Grundsatz umzusetzen, braucht es ein Heer untereinander konkurrierender qualifizierter und flexibler Arbeitnehmer und Arbeitsplatzbewerber als Reservearmee, der man „Flexibilität“ für mehr oder weniger zufällige Beschäftigung zumuten kann – sei dies nun aufgrund der Arbeitsmarktsituation oder durch die Gewöhnung an die neue Normalität prekärer, d.h. befristeter, ungesicherter und unterbezahlter Arbeitsverhältnisse. Dazu qualifiziert Beschäftigungsfähigkeit.

Das wirkt auf das Bildungssystem zurück: Wir erleben einen immer höheren Leistungsdruck auf allen Ebenen durch verschärfte Konkurrenz bei immer weiter gehender Entsolidarisierung. Das beginnt im Kindergarten, der durch Lehrpläne zu Vorschule wird; es geht weiter in einem hochselektiven Schulsystem. Es trennt zum frühesten Zeitpunkt die „Spreu“ der später nicht so einfach verwertbaren „Bildungsfernen“ vom „Weizen“ der „Überflieger“ und Anpassungsbereiten und so die Kinder der privilegierten, sich selbst so nennenden „Eliten“ von denen der „Prekären“.

Funktionierte alles so, wie die Vertreter der Leitidee der „Beschäftigungsfähigkeit“ sich das vorstellen, würde in letzter Konsequenz jedes öffentliche Bildungsangebot überflüssig. Dann hätten die Einzelnen sich ihre für das jeweilige Arbeitsplatzangebot erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten auf einem darauf zugerichteten Bildungsmarkt zu „kaufen“. Am besten an den konkreten Betriebsbedarf angepasst wäre dann ein Angebot, das „passgenau“ und ohne „Überqualifizierung“ genau das leistet, was der Arbeit anbietende Betrieb gerade braucht.


1.2 Was bringt „erweiterte Beruflichkeit“?


Für den Wissenschaftlichen Beraterkreis von ver.di und IG Metall ergibt das im neoliberalen Weltbild der letzten Jahrzehnte verankerte Prinzip der Beschäftigungsfähigkeit keine menschenwürdige Lösung des Beschäftigungsproblems und des Erfordernisses der Innovationsoffenheit. Demgegenüber gilt uns das Prinzip der Beruflichkeit als unabdingbar für die Perspektive guter Arbeit und eines guten, gesicherten und sinnvollen Lebens. Wir haben aber schon in unserer Streitschrift „Ohne Berufe geht es nicht!“, vor einem Jahrzehnt, betont, dass sich das Prinzip „Beruflichkeit“ den gesellschaftlichen, den ökonomischen und technischen Entwicklungen gegenüber offen zeigen muss. Das meinen wir, wenn wir von „Erweiterung“ der „Beruflichkeit“ reden: Gegenüber einer Berufsorientierung, die sich immer noch vorwiegend auf die Vorbilder der traditionellen Handwerksberufe oder der industriellen Formen des Arbeitskrafteinsatzes bezieht, geht es darum, sich den Herausforderungen informationstechnisch gestützter und erfahrungsbezogener Arbeitsformen zu stellen und diese zu nutzen.

Das von uns vorgeschlagene Konzept Erweiterter Beruflichkeit soll nicht nur die Grundlagen für kontinuierlichen Einkommenserwerb, soziale Sicherung und demokratische Teilhabe schaffen, sondern nicht zuletzt zur Identitätsentwicklung beitragen.

Mitbestimmungs- und Gestaltungspotentiale sind aus gewerkschaftlicher Perspektive grundlegend für das Berufskonzept. Die Breite der Berufsschneidung ist durch die Tarifparteien und staatliche Regelungen gestaltbar. Diese Prozesse sind durch korporatistische Steuerung geprägt: Berufe werden von den Sozialparteien, Bund und Ländern in einem Prozess der Konsensfindung in ihren Zuschnitten ausgehandelt, und durch die jeweiligen Ordnungen auf Dauer gestellt. In die arbeitspolitische Konstruktion der Berufe gehen so zunächst betriebliche Qualifikationserwartungen und -anforderungen ein. Sie unterliegen aber ebenfalls den Interessen der Arbeitnehmer und auch politischen Vorgaben.

Die berufsförmige Gestaltung des Arbeitseinsatzes fußt im Gegensatz zur Employability-Strategie auf
  • einer einheitlichen Festlegung von Qualifikationsanforderungen statt auf Qualifikations-Modulen

  • einer geregelten Organisation des Qualifikationserwerbs statt auf bloßer Output-Orientierung

  • einer anerkannten Zertifizierung erworbener und übertragbarer Qualifikationen statt unmittelbarer Einsetzbarkeit

  • einer korporatistischen Regelung der Zuständigkeiten statt auf Dominanz der Unternehmen

  • einer kollektiven Absicherung von Gratifikationen statt Einzelverträgen.

Gerade angesichts der Bedrohung der in Berufen festgelegten breiten Bündelung von Arbeitsfähigkeiten und der Gefahr ihrer Verengung in „Beschäftigungsfähigkeit“ müssen bestehende Berufsschneidungen geprüft und erweitert werden. Wir meinen mit Berufsbezug also nicht die im Verzeichnis der anerkennten Ausbildungsberufe aufgelisteten 329 (6/14), mindestens zum Teil immer noch spezialistisch ausgelegten Traditionsberufe. Aus Sicht der Beschäftigten müssen Berufszuschnitte folgende Mindestvoraussetzungen einer lernförderlichen Arbeitsgestaltung erfüllen:
  • eine entfaltungsförderliche Arbeitsgestaltung unter Berücksichtigung breiter Tätigkeitsspielräume, d.h. des individuellen und kollektiven Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums,

  • eine angemessene Arbeitsgestaltung, die Rücksicht nimmt auf individuelle Unterschiede, z.B. in Bezug auf Belastbarkeit und Vorerfahrungen,

  • eine offene Arbeitsgestaltung, bei der Arbeitsstrukturen und -systeme der individuellen Entwicklung sowie den tätigkeitsspezifischen Lern- und Erfahrungsfortschritten vorausgehen,

  • eine vorausschauende Arbeitsgestaltung, die Möglichkeiten der Arbeitsplatz- und Persönlichkeitsentwicklung schon im Stadium der Planung gezielt vorwegnimmt und mit der entsprechenden Bildungsentwicklung unterstützt,

  • eine Erweiterung von Möglichkeiten der Entwicklung sozialer Identität in der Arbeit und demokratischer Mitbestimmung bei der Gestaltung betrieblicher und gesellschaftlicher Prozesse.

Dabei verschwimmt auch die herkömmliche Aufteilung von Erstausbildung und Weiterbildung. Aus- und Weiterbildung werden einbezogen in ein übergreifendes System lebensentfaltender Bildung. Dabei wird Weiterbildung zu einem immer wichtigeren Bildungsbereich. Gute Weiterbildung stützt die Entwicklung von Beruflichkeit und ermöglicht erweiterte, dem modernen Arbeitsprozess ebenso wie der Kompetenzentwicklung der Arbeitenden förderliche Arbeitseinsatzformen, um Erstarrungen vorzubeugen, gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen, in ihrer Zwiespältigkeit wahrzunehmen und immer wieder gestaltend aufzugreifen.

Im Rahmen einer Konvergenzstrategie muss also geklärt werden, wie das Prinzip der Beruflichkeit von Arbeit – als erweiterte Beruflichkeit – in ein integriertes System umgesetzt werden kann, das alle Formen beruflicher Bildung bis in die Hochschulen umfasst, das Durchlässigkeit von einem Ausbildungsweg zum anderen, nächsten, und damit zu einer Gleichheit der Entfaltungsmöglichkeiten beiträgt. Es ist unsere Überzeugung, dass die gegeneinander abschottende Trennung der Lernwege in das duale System einerseits und Studium andererseits weder den einzelnen Lernenden, noch den Interessen der Betriebe – die auf kompetente Beschäftigte angewiesen sind – angemessen ist.

Es gilt die vormoderne Berufsbildungsideologie – Beruf als Berufung – ebenso in Frage zu stellen wie illusionäre Autonomievorstellungen der Universitäten.


2 Tendenzen im Ausbildungssystem und im Hochschulsektor


Allerdings fährt der Zug in Richtung Hochschule immer weiter. Die OECD kritisiert regelmäßig eine angeblich zu geringe Akademikerquote in Deutschland: Es sei dabei, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verspielen, wenn es nicht eine Steigerung des Anteils der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlossener Hochschulbildung auf mindestens vierzig Prozent, erreiche. Dabei wird aber übersehen, dass in Deutschland, Österreich und der Schweiz die nach wie vor funktionierende „duale“ Berufsausbildung einen großen Teil der Altersjahrgänge absorbiert, die in anderen Ländern als angelernte Arbeitskräfte in den Beruf gehen oder in Studienangebote nutzen, die hierzulande nicht Teil der hochschulischen Ausbildung sind.

Die vorherrschenden Akteure der Bildungspolitik in Deutschland versuchen dennoch schon seit etlichen Jahren die Akademikerquote zu steigern – und dies mit Erfolg, wenn wir die Studienbewerberquoten betrachten. Waren es 1950 erst rund fünf, Anfang der 1960er Jahre noch deutlich unter zehn Prozent eines Jahrgangs, die zum Studium strebten, so veränderte sich die Situation in den folgenden Jahrzehnten erheblich: Die Hochschulanfängerquoten steigen seither stetig, forciert durch die Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre. 1990/91 wurde zum ersten Mal die 30-Prozent Marke überschritten, ein halbes Jahrhundert nach Gründung der Bundesrepublik begann nicht mehr jeder Zwanzigste, sondern nahezu jeder Dritte ein Studium, und mittlerweile ist es rund die Hälfte der jungen Frauen und Männer: 2012 betrug die Studienanfängerquote rund 48 Prozent. Ein Ende dieser Entwicklung zeichnet sich nicht ab; langfristig wird mit Quoten um und über fünfzig Prozent gerechnet.


2.1 Was bedeutet der Zug zur Hochschulausbildung für den Arbeitsmarkt?


Diese quantitative Entwicklung wird aller Voraussicht nach zur Folge haben, dass sich sowohl die gesellschaftlichen als auch die betrieblichen Maßstäbe für „talentierte“ Bewerber und für „erfolgreiche“ Bildungskarrieren verändern. Hintergrund ist, dass neben den Aufsteigern aus dem dualen System nun auch Hochschulabsolventen mit Bachelor-Abschluss die Positionen mit Führungsaufgaben im mittleren Management beanspruchen (und tariflich auch so eingestuft werden).

In den vergangenen zehn Jahren ist in Deutschland die Zahl der Arbeitsplätze, für die ein Studium vorausgesetzt wird, um 1,6 auf 7,3 Millionen gestiegen. Die Erwerbslosigkeit von Akademikern ist währenddessen mit 2,5 Prozent gleich geblieben und liegt damit deutlich unter der durchschnittlichen Erwerbslosenquote. Ganz anders sieht es dagegen beim Stellenangebot für Un- und Angelernte aus, das im gleichen Zeitraum um 800.000 auf 6,9 Millionen zurückgegangen ist; die Erwerbslosenquote lag in diesem Bereich mit mehr als zwanzig Prozent weit über dem Durchschnitt.

Dennoch zeigen die Trends ambivalente Effekte. Insgesamt gesehen, auf alle Arbeitenden und Arbeitsuchenden bezogen, macht die kontinuierlich ansteigende Akademisierung nämlich den individuellen Vorteil wieder zunichte: Die Zahl der Bewerber um attraktive Arbeitsplätze wird immer größer – und damit natürlich die Chance des Einzelnen, einen solchen Arbeitsplatz zu erhalten, auf lange Sicht, wenn der Nachholbedarf bei der Einrichtung wissenschaftsnaher Arbeitsplätze erfüllt ist, immer geringer.

Die Beschäftigungsaussichten der einzelnen Arbeitsuchenden sind also eine Frage seiner relativen, nicht ihrer Qualifikation. Bei einer begrenzten Zahl von Arbeitsplätzen werden bevorzugt die als formal „besser“ qualifiziert geltenden Bewerber eingestellt.


2.2 Ein Exportschlager – Soll das „duale System“ der Erhöhung der Hochschulquoten weichen?


Es entsteht ein Kuriosum: Da wird das „duale System“ der Berufsausbildung im Kampf gegen die grassierende Arbeitslosigkeit junger, gerade auch in Hochschulen ausgebildeter Erwachsener in Europa zum Problemlöser hochgelobt, und, mit kräftiger Unterstützung der Politik, zum Exportschlager: Das deutsche Ausbildungssystem mit seiner typischen Mischung aus Schul- und Werkbank bzw. Labor, Büro oder Verkaufstresen und seinen Zwischenformen hat sich in der Finanz- und der folgenden Wirtschaftskrise zum Hoffnungsträger entwickelt. In Europa suchten Anfang 2013 offiziellen Zahlen zufolge fast sechs Millionen junger Menschen unter 25 Jahren eine Beschäftigung. In Spanien und Griechenland liegen die Quoten über der 50-Prozent-Marke – sozialer Sprengstoff, der die Politiker in den betroffenen Ländern gehörig unter Druck setzt. So schauen sie nach Deutschland, das mit acht Prozent mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeitsquote aufweist.

Als Schlüssel zum Erfolg gilt die „duale“ Ausbildung mit ihren deutlich besseren Beschäftigungseffekten: Im Jahr 2010 wurden immerhin 61 Prozent der Ausbildungsabsolventen übernommen. Die Hoffnungen im Ausland sind groß; die Gefahr zu scheitern, ist es aber auch. Denn das duale System in Deutschland hat historisch gewachsene Strukturen – mit den Rollen der Arbeitgeberorganisationen und der Gewerkschaften, mit den Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte, auch mit der Mitverantwortung der Kammern für die regionale Entwicklung usw., die nicht einfach grenzübergreifend zu übertragen sind, die aber letztlich den Erfolg dieses Bildungstyps ausmachen.

Zugleich jedoch sollen, wie gesagt, die Hochschulanfänger-Quoten auch in Deutschland so in die Höhe getrieben werden, dass sie bald zwei Drittel eines jeden Jahrgangs umfassen. Dadurch würde das „duale System“ in seiner Attraktivität endgültig ins Aus getrieben und zu einem Rest-Modell ähnlich dem, das die Hauptschulen heute im allgemeinbildenden Schulwesen darstellen, beziehungsweise Puffer für diejenigen, die noch nicht ins „Übergangssystem“ abgeschoben wurden.

Zugleich hat der betriebsorientierte Typ beruflicher Bildung erhebliche Schwächen:
  • in der kurzfristigen Rentabilitätskalkülen geschuldeten Verweigerung von Ausbildungsplätzen durch die Betriebe – also Lehrstellenmangel trotz des immer wieder beschworenen Fachkräftemangels,

  • in dem daraus resultierenden quantitativen Bedeutungszuwachs eines ausbremsenden „Übergangssystems“, das eher als Wartehalle dient – auf Züge, die nicht fahren,

  • im Übergewicht der Unternehmen bei den Entscheidungen im „dualen“ System, was z.B. Lernorte, Lerninhalte und Entscheidungsbefugnisse betrifft, und

  • in der Verweigerung zukunftsoffener Weiterbildungsmöglichkeiten.

Das bis ins 20. Jahrhundert in Deutschlands Industriegesellschaft dominante Modell der Berufsausbildung hat sich, nicht zuletzt aufgrund der Strukturverschiebungen zwischen der unmittelbaren Produktion und den Dienstleistungssektoren erheblich ausdifferenziert; und zwar in allen relevanten Aspekten
  • sowohl was die Lerninhalte im Verhältnis von Kenntnissen und Fertigkeiten betrifft

  • als auch was den Stellenwert der unterschiedlichen Lernorte betrifft; so reicht auch der Lernort Betrieb selbst über den einzelnen Arbeitsplatz hinaus, geschieht betriebliches Lernen in Lernstätten, Lerninseln, Projekten, rotierend usw.,

  • was die Zuständigkeiten betrifft, indem z.B. im Zuge der ebenfalls europaweit favorisierten „neuen Steuerungsmodelle“ zunehmend regionale Instanzen der Wirtschaftsförderung und Netzwerke einbezogen werden.

  • So verschwinden zunehmend die Unterschiede zwischen den tradierten Formen „dualer“ Berufsausbildung und manchen Formen des Schulberufssystems, soweit es die Lernorte betrifft. Was bleibt davon, wenn etwa der schulische Part der „dualen“ Ausbildung im Block stattfindet und die Schwesternschülerinnen in den Krankenhäusern Dienst tun?

2.3 Wohin soll die Reise gehen?


Das wachsende Gewicht der Hybridstudiengänge an den Fachhochschulen, der Zuwachs „dualer Studiengänge“, die Ansätze, Hochschulen verstärkt für Berufstätige zu öffnen, die Vervielfachung der Lernorte, die Entwicklung von Grundberufen – all dies kann als Tendenz hin zu einer neuen Form der Berufsbildung angesehen werden.

Wir halten angesichts der absehbaren wirtschaftlichen und demographischen Entwicklungen gemeinsame Leitlinien für alle Formen beruflicher Bildung für zukunftsweisend und erforderlich – mit dem Ziel eines integrierten, öffentlich garantierten, miteinander koordinierten Systems,
  • das dauerhaft angemessene Aus- und Weiterbildung ermöglicht,

  • an dessen Schnittstellen jeder, der die für die erstrebte Stufe erforderlichen Voraussetzungen mitbringt, jederzeit einsteigen kann,

  • das Übergänge, Eintritte und Austritte, Wiedereintritte von einem Teilsystem in das andere systematisch öffnet, statt sie mit Ausleseschranken zu versperren,

  • das auf menschenwürdige Berufspraxis vorbereitet.

Dabei setzen wir anstelle von Gesamtentwürfen, wie sie das Modell der Kollegstufe in Nordrhein-Westfalen oder die Oberstufenzentren in Berlin repräsentierten, sowie vieler unübersichtlich wuchernder Modellversuche auf eine „Konvergenz“-Strategie. Wir entwerfen also keine Blaupause eines Idealmodells. Dies unterscheidet die Konvergenzstrategie von bisher versuchten Integrationsstrategien. Um aber zu wissen, was heute zu tun ist, müssen wir wissen, wo wir hinwollen. Es geht eben nicht darum, von heute auf morgen ein neues „System“ zu schaffen. Was aber aufhören muss, ist die Hoffnung auf den großen widerspruchsfreien Entwurf ebenso wie „Maßnahmen“-Flickschusterei und Modellversucherei – Aktionismus mit Alibifunktion, dem jegliche Konsequenz abgeht.


3 Ambivalente Entwicklungen der Strategien zur Integration allgemeiner und beruflicher Bildung


Die Integration „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung gehört zu den zentralen Problemen seit Bildung in Deutschland Gegenstand von Politik und Wissenschaft ist. Dabei geht es entweder um Nützlichkeit und Brauchbarkeit oder aber um Mündigkeit, die Entfaltung umfassender Persönlichkeit und umfassende Teilhabe.
  • Dies ist zunächst um ein curriculares Problem, also um die Reichweite von Zielen, Inhalten und Methoden des Lernens zwischen ökonomischer Verwertung und personaler Aneignung.

  • Zweitens geht es um die Anteile verschiedener Lernorte: Schulen, Betriebe und Bildungsträger, Arbeitsplätze, Lerninseln, Lehrwerkstätten, Trainingszentren, Unterrichtsstätten oder andere konzeptionelle Formen der Berufsbildung.

  • Davon ist auch die Entscheidungszuständigkeit berührt, nämlich wie weit Planung, Durchführung und Auswertung der Lernprozesse beeinflusst werden können – von den Lernenden selbst, von Unternehmen, Sozialparteien, öffentlichen Gremien oder staatlichen Instanzen. Juristisch spiegelt sich die Trennung in der Zuständigkeit für verschiedene Rechtsbereiche wider, so z.B. die des Bundes für das Arbeitsrecht gegenüber der der Kulturhoheit der Länder.

  • Damit sind dann auch entsprechende Verteilung von Ressourcen und daran anschließend der Finanzierung verbunden.

Weitere Bezugspunkte der Integrationsdebatte sind unterschiedliche Berechtigungen, z.B. wenn Bildungsgänge doppelqualifizierend enden, also sowohl mit einem „allgemeinbildenden“, d.h. zu „höheren“ Bildungsgängen weitergehenden, als auch mit einem „berufsbildenden“, d.h. die Aufnahme höher eingruppierter Arbeitstätigkeit eröffnenden, Abschluss führen, oder aber wenn beide Abschlüsse zu gleichem Zugang berechtigen.

Bislang sind die Bemühungen um Gleichwertigkeit entweder gescheitert oder nur schleppend und nur punktuell erfolgreich realisiert worden. Der wohl wichtigste Grund hierfür liegt in der Aufrechterhaltung sozialer Statusdifferenzen und sozialmilieuspezifischer Teilhabechancen, wie sie durch die Trennung von „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung gewährleistet werden.


3.1 Wie erfolgen Verteilungen und Zuordnungen in der „allgemeinen“ und „beruflichen“ Bildung?


Soziale Disparitäten, ungleiche Chancen und Teilhabe manifestieren sich sowohl im Bildungs- als auch im Beschäftigungssystem: Die horizontale und vertikale Gliederung des Bildungssystems in Bildungseinrichtungen, Bildungsgängen und Bildungsstufen und die Differenzierung des Beschäftigungssystems nach Arbeitsmarktsegmenten, betrieblichen Hierarchien, beruflichen Positionen, Qualifikationsstufen, Karrierewegen hängen eng zusammen und reproduzieren sich aufgrund ihrer Zugangsmuster und Selektionsmechanismen gegenseitig – mit dem Effekt, dass die hierarchisch gegliederte Sozialstruktur trotz zwischenzeitlicher bildungs- und beschäftigungspolitischer Aufbrüche und Reformversuche erhalten bleibt. Die Formel: Allgemeinbildug sei die Berufliche Bildung für die Herrschenden und Berufliche Bildung sei die Allgemeine Bildung für die Beherrschten, gilt immer noch.

Obwohl der formale Bildungsstand der Bevölkerung insgesamt in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen ist und sich die Quote derer, die die Haupt- oder Realschule besuchen, zugunsten derer, die die Gymnasien besuchen, immer mehr verringert hat, stimmt nach wie vor: Je niedriger der soziale und wirtschaftliche Status der Eltern, umso häufiger besuchen die Jugendlichen die Hauptschule. Jugendliche mit Hauptschulabschluss finden, soweit sie nicht gleich ins Übergangssystem abgeschoben werden, einen Ausbildungsplatz am ehesten im Handwerk, in der Hauswirtschaft, der Landwirtschaft und im Einzelhandel, in Berufsfeldern also, die aufgrund ihrer begrenzten Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen, eher geringer Weiterqualifizierungsmöglichkeiten und eher mäßigem Sozialprestige wenig attraktiv sind. So entsteht ein Zirkel der Reproduktion gesellschaftlicher Ungerechtigkeit.

Auch wenn die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss zurückgeht und das formale schulische Abschlussniveau insgesamt steigt, landet jährlich ein Viertel der Jugendlichen in den Warteschleifen des „Übergangssystems“, die sich während der letzten drei Jahrzehnte über alle Konjunkturen und politischen Konstellationen hinweg hartnäckig verfestigen und erhalten. Trotz des schon seit den 1980er Jahren angekündigten Demografie bedingten Fachkräftemangels haben in Deutschland über zwei Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren keinen beruflichen Abschluss. Dabei hat sich das Abschlussniveau auch der Jugendlichen in den Warteschleifen zunehmend verbessert: So verfügen inzwischen knapp 53 Prozent über einen Hauptschul- und knapp 25 Prozent über einen Realschulabschluss.

Die Frage ist: Wie durchsetzungsfähig können vor diesem Hintergrund und den dahinter stehenden Interessen, den Status quo zu erhalten, Bemühungen um die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildungsabschlüsse eigentlich sein?


3.2 Gleichwertigkeit oder sozial strukturierende und gesellschaftlich arbeitsteilende Funktionen „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung?


Zwar stieg auch schon im Laufe des 19. Jahrhunderts das Bildungsniveau in Deutschland an; dennoch blieb die weiterführende Bildung Sache der bürgerlichen Milieus, während die Kinder der unteren Schichten in den für sie vorgesehenen Schulen sozial kontrolliert werden konnten.

Erst die Bildungsreform der 1960/70er Jahre, die Chancengleichheit im Bildungssystem und ein „umfassendes Bildungssystem“ für eine Aufwertung der beruflichen Bildung durch höherwertige Abschlüsse, wissenschaftsorientierte Ansätze in der beruflichen Bildung und eine Öffnung der Hochschulen forderte, brachte neuen Wind in die Gleichwertigkeitsdebatte und Integrationsversuche.

Der Aufbau beruflicher Gymnasien, der Fach- und Berufsoberschule, der Ausbau des Hochschulzugangs für Studieninteressierte ohne formale Hochschulzugangsberechtigung, der Kollegschulmodellversuch in Nordrhein-Westfalen, die Planung der Oberstufenzentren in Berlin, die damals zunehmende Bedeutung des „Zweiten Bildungsweges“ über Berufsaufbauschulen, Kollegs oder Abendgymnasien, aber auch der Fachhochschulzugang für Techniker oder die Gleichsetzung der Meisterprüfung mit der Fachhochschulreife waren Initiativen, die die Anschlussfähigkeit der „beruflichen“ an die „allgemeine“ Bildung unterstützen sollten.

Im Rückblick können jedoch alle diese Ansätze als bestenfalls bedingt erfolgreich eingeschätzt werden. Das tonangebende Besitz- und Bildungsbürgertum war an der Gleichstellung der herkömmlichen Berechtigungen von „beruflicher“ und höherer „allgemeiner“ Bildung nicht interessiert. Es folgt selbst der Leistungsideologie und glaubt an die Devise „Aufstieg durch Bildung“ bzw. gerät in „Bildungspanik“, wenn der schulische Erfolg der eigenen Kinder gefährdet wird. Mit dem „Kooperationsverbot“ wurden weitergehende Integrationskonzepte blockiert.


3.3 Wirkt das Fortbestehen zersplitterterter Zuständigkeiten als Integrationsdilemma?


Während durch das Grundgesetz die Verantwortung für die „allgemeine Bildung“ den Kultusministerien der Länder übertragen wurde, war „berufliche Bildung“ zunächst kaum öffentliches Thema. Bei den berufsbildungspolitischen Entscheidungsträgern wie den Industrie-, Handwerks- und Arbeitgeberverbänden stand außer Frage, dass die berufliche Erstausbildung auch künftig in der Hauptverantwortung der Unternehmen liegen sollte.

Doch nicht nur zwischen der allgemeinen und der beruflichen Bildung verfestigte sich im Hinblick auf Zuordnung von Jugendlichen und Aufnahmeleistung eine Arbeitsteilung, sondern auch innerhalb des beruflichen Bildungssystems selbst existierte eine Aufteilung in unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche.:

Zwar hat seit Mitte der 1960er eine Erweiterung der Verantwortung des Staates auch im „dualen System“ stattgefunden, ebenso sind mit dem Berufsbildungsgesetz 1969 gewerkschaftliche Beteiligungsrechte bezogen auf Ordnung und Durchführung der Ausbildung ausgedehnt worden. Aber diese Beteiligung findet ihr Ende bei der Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen.

Dies betrifft auch aktuelle Vorschläge zur „Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung“, die auf die Erweiterung von Hochschulzugängen für beruflich Qualifizierte, auf inhaltlich komplexere Berufsausbildung, Doppelqualifikation und auf die Verzahnung betrieblich-schulischer, vollzeitschulischer mit akademischen Abschlüssen (duale Studiengänge) abzielen. Beispielsweise indem,
  • die „allgemeinbildenden“ Sekundarbereiche I und II und die Hochschulen aufgeschlossen werden für andere Bildungstypen und Lernbiographien,

  • die Integration von Studienorientierung in der Sekundarstufe II und Studieneingangsphasen in der Hochschule unterstützt,

  • berufliche Kompetenzen und berufsbegleitende Weiterbildung auf Studiengänge und -abschlüsse angerechnet werden,

  • aufbauende akademische Weiterbildung eingerichtet oder

  • Studiengänge um berufsqualifizierende Anteile angereichert werden.

Inwieweit die berechtigungsbezogene „Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung“ durch die Bildungspolitik der Länder und des Bundes unterstützt und von den „allgemeinbildenden Bildungseinrichtungen“ angenommen werden, hängt unter gegebenen Bedingungen letztlich davon ab, inwieweit sie zu deren Selbsterhalt beiträgt und Bildungsmonopole nicht gefährdet.


3.4 Anerkennung der Gleichwertigkeit von Kompetenzen durch den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR)?

Ein Schritt in Richtung einer Anerkennung der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung könnte auch dadurch erfolgen, dass in den traditionell gegeneinander abgeschotteten Teilen des Bildungssystems mit im Arbeits- und Familienleben erworbene Kompetenzen formal gleichgestellt werden.

Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) könnte ein Instrument hierfür sein. Er soll neben der Förderung von Transparenz und Mobilität im europäischen Raum die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Sektoren des Bildungssystems und der Arbeitswelt verbessern, die geforderte Anerkennung der Gleichwertigkeit von „allgemeiner und beruflicher“ Bildung sowie institutioneller und informell erworbener Kompetenzen fördern. Die Risiken, aber auch die Chancen einer solchen Entwicklung sind kaum abzuschätzen, zumal die entsprechenden Mess-, Validierungs- und Anerkennungskonzepte bisher kaum entwickelt, geschweige denn fundiert und evaluiert sind. Bislang bleibt vor allem festzuhalten, dass eine mit der Umgestaltung verbundene „Outcome-Orientierung“, der es um die Kompetenzen der Arbeitskräfte geht, ohne die Lernwege zu berücksichtigen, vorrangig auf Marktbedarfe, Beschäftigungsfähigkeit eben, und nicht auf Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit ausrichten würde.

Grundsätzlich könnten Anerkennungsverfahren dazu beitragen, die wechselseitige Abschottung der Bildungs- und Berufsbildungsbereiche und ihre über Jahrhunderte entwickelten Berechtigungs- und Ausgrenzungsmechanismen zu durchbrechen, indem Schnittstellen zwischen den Bildungsbereichen und innerhalb der Bildungsbereiche als offene Zu- und Übergänge gestaltet und anerkannt werden. Hierzu bedarf es der Anerkennung und Anrechnung der jeweiligen Vor- und Nachqualifizierungen.

Nicht zu unterschätzen sind aber die Interessenkonflikte, die insbesondere dann manifest werden, wenn, wie vorgesehen, privatwirtschaftlich organisierte gleichwertig neben öffentlich verantwortete Validierungsverfahren treten.

Tatsächlich stößt die im Rahmen des Europäischen Qualifikationsrahmens verfolgte und im nationalen DQR umgesetzte Strategie auf vielfältige Umsetzungsschwierigkeiten. So
  • fallen die Versuche der Beschreibung vergleichbarer Kompetenzen („Dublin Descriptors“) weit hinter den Stand der wissenschaftlichen Diskussion zurück;

  • erfolgt die Messung eines vom Lernweg abgelösten Lernerfolges entweder beliebig oder erfordert Diagnosse- und Evaluationsinstrumente, die nicht vorliegen.

  • vervielfacht die Einbeziehung „informell“ erworbener Kompetenzen, die eigentlich sinnvoll wäre, noch die ungeklärten Fragen der Anerkennung.


4 Wissenschaftliches Wissen und Erfahrungswissen verbinden!


Das Gewicht von Studierenden im Bildungssystem und von Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt wächst. 2012 gab es ca. zweieinhalb Millionen Studierende, aber nur noch knapp anderthalb Millionen Auszubildende. Wissenschaftlichkeit scheint sich durchgesetzt zu haben. Der grundlegende Konflikt geht jedoch um den Stellenwert und die Form geistiger und körperlicher Arbeit: Die Kontroverse um Stellenwert und Rangfolge des wissenschaftlichen Wissens und des Erfahrungswissens ist unverändert scharf.

Hier liegt die entscheidende Voraussetzung möglicher Integration. An die seit Jahren stabile Einschätzung des wirtschaftlichen Gewichts einer hohen Akademikerquote durch die OECD ist das hohe Pathos der „Wissensgesellschaft“ durchaus anschlussfähig. Diese Formel durcheilt die öffentliche Meinung, zeichnet ihre Denkmuster vor, erfasst Politiker und Medien und bildet einen Brennpunkt der Bildungsdiskussion.

Inzwischen ist jedoch, seitdem die Informationsflut der neuen Medien zur persönlichen Belastung wird und neuerdings die gigantischen Abhör- und Überwachungspraktiken der Geheimdienste aufgedeckt wurde, Nüchternheit eingetreten. Man hat eingesehen, wie sehr Informationen brisant und selektiv sind. Ein darauf beruhendes Wissen wird vor allem als wirtschaftlich verwertbare Ressource eingesetzt, dem Profitinteresse ausgeliefert und politischen Strategien unterworfen.

Sammeln, Sortieren und Bündeln von Informationen, das Speichern von Daten, ist darüber hinaus auf eine kognitive Dimension und auf eine instrumentelle Ebene beschränkt, während es emotionale Aspekte und die Zielebene ausblendet. Wissenschaftsbezug ist eine zweischneidige Angelegenheit:

Zum einen wird sie den hochschulischen Bildungsgängen zugesprochen. Der Anstieg der Studierendenzahlen kann für die Facharbeit, die stark Erfahrungswissen repräsentiert, in den Betrieben zum Problem werden, indem ihr Stellenwert unterhöhlt wird. So sind jene Belegschaftsmitglieder, welche die „duale“ Ausbildung durchlaufen und betrieblich relevante Kenntnisse gesammelt haben, bisher in die hierarchischen Ebenen der Meister und des mittleren Managements aufgerückt. Dies wird blockiert und abgeschnitten.

Zum andern sind auf der institutionellen Ebene starke Tendenzen der Verwissenschaftlichung in der Form der Akademisierung erkennbar: Die Universitäten zieren sich weiter, das Studium als Form der Berufsausbildung zu betrachten, was es weithin ist. Stattdessen bemühen sie sich, ihre Alleinstellungsmerkmale zu schärfen, indem sie der Forschung und dem Einwerben von Drittmitteln den ersten Rang einräumen, sich der Vermittlung der Lehre als Vermittlung wissenschaftlich abgehobenen Wissens widmen, während die Fachhochschulen darauf drängen, die „dualen Studiengänge“ mit ihrem Bezug zur Arbeitswelt abzustreifen und ihre Standards denen der Universitäten anzugleichen. Der Bologna-Prozess hat zur Verbreitung des praxisfernen Wissenstyps sogar noch beigetragen:

Schließlich ist auch in der „dualen Ausbildung“ das Bemühen erkennbar, der beruflichen Bildung einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben und den akademisch-hochschulischen Wissenstyp zu übernehmen.

Die Leitlinien erweiterter Beruflichkeit sind darauf angelegt, eine Synthese zwischen systematischem Wissen und Erfahrungswissen, das aus der alltäglichen Lebens- und Arbeitspraxis gewonnen wird, herzustellen.

Es ist bemerkenswert, dass der letzte Bildungsbericht der OECD neben der bekannten Klage über den unterdurchschnittlichen Akademisierungsgrad den hohen Wert des „dualen Systems“ anerkennt, dessen besonderes Profil neben der technischen Kompetenz das Erfahrungswissen ist.

Durch Erfahrungswissen angereicherte Arbeitsweisen sind dann in der Lage, Planungsrisiken zu verringern. Auch ist die Vorstellung unterkomplex, menschliches Handeln würde vorhergehenden Kenntnissen folgen, ohne die Wechselwirkung zwischen sinnlicher Wahrnehmung, spürendem Empfinden, bildhaften Assoziationen oder emotionalen Impulsen einerseits und Erkenntnis anderseits zu berücksichtigen. Ebenso wie ein Mehr an Wissen zu erweiterten Handlungsmöglichkeiten führt, lässt das Ausloten gewagter Handlungsmöglichkeiten neues Wissen entstehen. Offensichtlich steigern Versuch und Irrtum im Handeln die Wissensaneignung. Und systematisches Wissen findet seine Korrektur in kontextbezogener Erfahrung.

Entscheidend für die Identifikationschancen in der Arbeit wird sein, inwieweit an den Arbeitsplätzen selbst Potentiale zu finden sind oder entstehen, erweiterte Kompetenzen der Beschäftigten einzubringen. Die Behauptung, auf die die Befürworter eines fortschreitenden Akademisierungsprozesses abstellen, ist, dass zunehmend abstraktes, formales Wissen benötigt und deshalb die betriebsbezogene und beruflich gefasste Ausbildung zum Auslaufmodell werde. Damit wäre der Hinführung auf eine erweiterte Beruflichkeit der Weg versperrt.

Die These, dass Erfahrungswissen an Bedeutung verlöre, ist aber in solcher Allgemeinheit nicht tragfähig. Vielmehr werden – erstens – konkrete Erfahrungen in Innovationsprozessen sogar noch wichtiger. Es geht nämlich bei solchen neuen Erfahrungen nicht um Abwicklung und Wiederholung von Routinen, sondern um den kreativen Umgang mit neuen Situationen. Der erschöpft sich eben nicht in formalisiertem Wissen, sondern gerade an den fortgeschrittensten Arbeitsplätzen werden Organisationsformen und Kompetenzbündel bedeutsam, welche emotionale und intuitive Tätigkeitsbezüge ermöglichen. Erfahrungen beruhen auf umfassender Wahrnehmung: des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Fühlens. Die Expertise eines Werkzeugmachers beruht auch auf der Erfahrung, die Maschine sofort abstellen zu müssen, wenn eine Färbung des Werkstücks ein Brechen andeutet; die Expertise einer Hebamme setzt darauf, unmittelbar einzugreifen, wenn die Geschwindigkeit des Atmens Gefahren für Mutter und Kind ankündigt; Hochofenarbeiter beurteilen nicht nur die Messwerte an der Leitwarte, sondern auch die Farbe der Schmelze. Erfahrungen gehen in Fleisch und Blut über; Handlungssouveränität zu entwickeln, braucht Zeit.

Solange alles routinisiert normal läuft, reicht abstraktes, formales, wissenschaftliches Wissen aus. Es beruht auf Gesetzmäßigkeit, Übertragbarkeit und Verallgemeinerbarkeit. Immer wieder aber wird das durch den unerwarteten Einzelfall durchbrochen. Neue, innovative und kreative Formen der Arbeit brauchen Arbeitskräfte, die den einzelnen Fall beherrschen. Die traditionelle Arbeitseinsatzpolitik der Unternehmen ist es, solche Kompetenzen auf Spezialisten hin abzuspalten, auf technische Systeme zu übertragen und die Routine bei der Jedermannsarbeitskraft zu belassen. Wenn aber die Abläufe sich vermischen und immer die Gefahr besteht, dass der Ausnahmefall eintritt, sind dieser Form des Personaleinsatze ihre Grenzen aufgezeigt: Employability reicht nicht aus, Beruflichkeit ist angemessen.

Zweitens muss das Rad des Kompetenzerwerbs für erweiterte Beruflichkeit, nämlich die Synthese aus wissensbasierter und erfahrungsbasierter Bildung nicht neu erfunden werden. Das Abendgymnasium, das Wirtschaftsgymnasium, die Fach- und Berufsoberschulen, das Berufskolleg, die Berufsakademie, die dualen Studiengänge, der Zweite Bildungsweg, der den Zugang bis zur Fachhochschulreife oder fachgebunden Hochschulreife erschließt und schließlich der Dritte Bildungsweg, der für Meister, Techniker und Fachwirte den Hochschulzugang ohne Abitur eröffnet, sind Strategien, die darauf abzielen, die Zugangsrechte im Bildungssystem durchlässig zu machen. Allerdings sind sie nur bedingt erfolgreich, solange sie an den tradierten Vorstellungen „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung festhalten und deren ungleiche Rangfolge zementieren. Statt einzelner, isolierter Konzepte, bedarf ist einer langfristigen Konversionsstrategie.

Drittens kann „erweiterte Beruflichkeit“ exemplarisch an zwei Komponenten einer jeweiligen Synthese verdeutlicht werden: der Fachkompetenz und der Handlungskompetenz. Um Fachkompetenz zu erlangen, braucht es den Abstand des erkennenden Subjekts zum erkannten Gegenstand – ganz gleich, ob es sich um Tätigkeiten im industriellen Bereich oder um personennahe Dienstleistungen handelt. Es geht um das Vermögen, sich über das, was wichtig und unwichtig ist, was notwendig, nützlich und angenehm oder vernachlässigbar ist, ein Urteil zu bilden. Aber ohne persönliche Anteilnahme und verbindliches Engagement würde das Wissen oberflächlich, „träge“ oder „tot“ bleiben – also nicht in Handlungskompetenz übergehen.

Viertens verdient die subjektive Dimension erweiterter Beruflichkeit besondere Aufmerksamkeit. Beruflichkeit ist untrennbar mit einem handelnden Subjekt verbunden und dessen Suche nach unverwechselbaren Identität. Es sind die individuellen Subjekte selbst, die lernen, Gestalter ihres Wissens und Handelns zu werden, ihre eigene Geschichte zu erzählen und herzustellen. Der Subjektbezug erweiterter Beruflichkeit schließt zudem die Einbettung des Wissens in das Erlebnisvermögen der Einzelnen ein. Subjekte, die als Träger einer erweiterten Beruflichkeit in den Blick geraten, haben eine Biographie. Diese erstreckt sich über einen zeitlichen Horizont, der die Ereignisse und Erlebnisse, die im gegenwärtigen Augenblick wahrgenommen werden, auf die erinnerte Vergangenheit und die erwartete Zukunft ausdehnt.


5 Perspektiven „dual“, schulisch und hochschulisch organisierter Lernwege


Wenn wir eine Bildungs- und Arbeitspolitik in Richtung auf einen Integrationsprozess wollen, der die bisherige Trennung selektiver Bildungsinstitutionen und polarisierter Arbeitseinsatztypen überwindet, muss auch die Polarität von „akademischem“ und „betrieblichem“ Bildungstyp aufgehoben und müssen die traditionellen Barrieren zwischen Facharbeitern und Akademikern aufgebrochen werden, die sich über hierarchisch orientierte Abschlüsse begründen.

Die – bezogen auf das Vermittlungs-/Anwendungs-Verhältnis, betriebliche und schulische bzw. hochschulische Anteile, Prozesse der Kompetenzentwicklung sowie die Relation von wissenschaftlichem und erfahrungsbezogenem Wissen – unterschiedlichen Merkmale der Qualifikations- und Arbeitseinsatzstrategien können sich im Rahmen einer solchen Politik in den Tätigkeitsprofilen aufeinander zu bewegen. Bildungs- und Arbeitspolitik lassen sich so zunehmend verbinden und Organisationsformen und Inhaltsbereiche betrieblicher, schulischer und hochschulische Bildungsprozesse stärker aufeinander beziehen.

Entscheidend sind komplexe Durchmischung und institutionalisierte Kooperation innerhalb der Belegschaften zwischen Fachkräften unterschiedlicher Qualifikationsprofile und Arbeitstypen. Hier liegen die Voraussetzungen für arbeitsorientierte Belegschafts- und Unternehmensstrukturen. Dazu gehört erweiterte Beruflichkeit als Orientierungsmuster, ausgeübt in der betrieblichen Kooperation von Facharbeit mit unterschiedlichen Profilen, zu denen Absolventen der Hochschulen gehören.

Perspektiven eines neuen wissenschaftsbasierten und zugleich erfahrungsfundierten Berufsbildungssystems zu entwickeln, heißt weder die herkömmliche Hochschulbildung noch die bestehenden Berufsausbildung fortzuschreiben. Die Zielperspektive legt vielmehr nahe, Elemente beider Lernwege auf der Grundlage wissenschaftlich begründeten Erfahrungswissens in „erweiterter Beruflichkeit“ zu kombinieren.

Wie entwicklungsoffenes, innovatives Lernen für die Arbeitswelt der Zukunft aussieht, entscheidet sich nicht auf der Ebene des Pro und Contra zu Akademisierung oder Verbetrieblichung, sondern durch gelungene Verknüpfung wissenschaftlich-systematischen und erfahrungsorientierten Wissens sowie angemessenen Lernformen. Wir plädieren für zunehmend erfahrungsbasierte Lernprozesse in der Hochschulbildung und wissenschaftsfundierte Berufsbildung. Wir befürworten eine
  • breit angelegte Berufsausbildung
  • mit dem Ziel der Vermittlung von „Kernqualifikationen“

  • auf der Basis eines erweiterten Berufsbildungskonzepts,

  • die über einen systematischen Ausbildungsgang

  • unter Beteiligung der Betriebe, der berufsbildenden Schulen und der Hochschulen

  • selbständige berufliche Handlungsfähigkeit und

  • bereichsübergreifendes Zusammenhangswissen aufbaut.

Vor diesem Hintergrund stehen mittelfristige Schritte an, welche daran zu messen sind, ob sie die langfristige Perspektive in Richtung auf „erweiterte Beruflichkeit“ offen halten. Zentrale Probleme, die aufgenommen werden müssen, sind Übergänge und Durchlässigkeit. Dazu ist als erstes das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern zu durchbrechen und zu beseitigen.


Peter Faulstich
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors


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Schlagworte zu diesem Beitrag: Ausbildung, Lebenslanges Lernen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 10.07.2014