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Beruflichkeit reflektieren! – Bildung orientieren!

Einige Probleme bei den Vorschlägen des wissenschaftlichen Beraterkreises von IGM und ver.di für eine Konvergenzstrategie zur gemeinsamen Weiterentwicklung betrieblicher, schulischer und hochschulischer Berufsbildung.

Der wissenschaftliche Beraterkreis beschäftigt sich – wie es Wissenschaft eben an sich hat – mit Grundsätzlichem und Langfristigem – und dabei mit Begriffsklärungen. So was mag manchmal als Wortklauberei erscheinen. Es geht aber letztlich um das Besetzten von Begriffen und dann um das Ergreifen von Köpfen.

Nur ein Beispiel: Wer den Begriff „Wirtschaftsflüchtlinge“ erfunden hat, verdient für seine Verdienste das „Eiserne Kreuz 1. Klasse“ der reaktionären Rechten. Das Wort ist zu einem Kampfbegriff geworden, der weitreichende Verwirrung erzeugt und Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass und Angst vor den Armen verschleiert.

Die IGM hat mit „Erweiterte moderne Beruflichkeit“ (EmB) eine Formel gefunden, die hinreichend prägnant, so dass sie sich in den Köpfen festsetzt, und hinreichend unscharf ist, so dass sich verschiedene Positionen wiederfinden können. Allerdings gilt es dies inhaltlich zu füllen. Was ist denn „modern“? Ich selbst vermeide das Wort eher, weil es vortäuscht, das Neue sei das Gute, was – wie gerade die Gewerkschaften erfahren müssen – keineswegs stimmt. Der Kapitalismus ist modern und er wird immer moderner. Er wird sogar postmodern.

Deshalb haben wir in unserem letzten Gutachten den Begriff „erweitert“ vorgezogen, um uns abzusetzen gegen enge Berufsschneidungen in ständisch, handwerklichen Traditionen.

Aber man könnte dann immer noch den Vorwurf der Formalität erheben. Eigentlich steht – jedenfalls für mich – eine Vorstellung von Arbeit dahinter, die zurückgeht auf die Diskussion um „Humanisierung der Arbeit“, und die m.E. am deutlichsten von dem Arbeitswissenschaftler Eberhard Ulich formuliert worden ist unter der Bezeichnung „persönlichkeits- und lernförderliche Arbeitsplätze“. Es geht um „menschenwürdige“ Arbeit
  • erweiterte Handlungsspielräume
  • angemessene zeitliche Spielräume
  • Durchschaubarkeit und Veränderbarkeit der Arbeitsbedingungen
  • Abbau von Behinderungen in der Arbeitstätigkeit
  • Ermöglichen körperlicher Aktivitäten
  • Ermöglichen sinnlicher Erfahrbarkeit
  • Bezugnahme zu sozialen Bedingungen
  • Einräumung unterschiedlicher Umsetzungsbedingungen
  • Kooperation und zwischenmenschlicher Kontakt.

Aber die Frage ist dann: Sind solche Arbeitsplätze im Sternzeichen „Industrie 4.0“ überhaupt noch durchsetzbar? Welche Rolle spielt der Mensch in der Fabrik der Zukunft?


1. Employability gegen Beruflichkeit

Wir können auf alle Fälle über Bildung nur sinnvoll reden, wenn wir die Perspektiven der Erwerbsarbeit im Auge behalten. Arbeit in der Form des Berufs sichert den Beschäftigten trotz der auch hier greifenden Tendenzen zu Prekarität noch am ehesten Arbeitsplatz und Einkommen und bietet Möglichkeiten, sich in der Arbeit wiederzufinden und zu verwirklichen.

Grob vereinfacht gibt es bezogen auf die Zukunft der Erwerbsarbeit eine Entwicklungsalternative, die wir bewusst konträr konstruieren:
Die Wachstumsstrategie „Europa 2020“ der EU setzt auf das anglo-amerikanische Arbeitsmarkt-Paradigma der „Employability“ , das auf ganz anderen arbeitskulturellen Wurzeln fußt als das deutsche Modell der Beruflichkeit, nämlich auf einem Marktradikalismus ungebändigt durch Schranken, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg als „Soziale Marktwirtschaft“ aufgebaut worden ist. „Employability“ heißt im Klartext Einsatzfähigkeit, die Zerstückelung des individuellen „Humankapitals“ für partialisierten Bedarfe.

Gegen die in Europa vorherrschende Strategie der Beschäftigungsfähigkeit – „Employability“ – , die einhergeht mit einer weiteren Zerfaserung und Zersplitterung von Qualifikation und Beschäftigung, steht „Erweiterte Beruflichkeit“, die abzielt auf breite Berufszuschnitte als Mindestvoraussetzung für eine entfaltungsförderliche, angemessene, offene und vorausschauende Arbeitsgestaltung, eine erweiterte Möglichkeit sozialer Identität in der Arbeit, eine demokratische Beteiligungsfähigkeit für Mitbestimmung in Staat und Gesellschaft.

Die berufsförmige Gestaltung des Arbeitseinsatzes fußt auf
  • einer übergreifenden Festlegung von Qualifikationsanforderungen statt auf singulären Qualifikations-Modulen,

  • einer geregelten Organisation des Qualifikationserwerbs statt auf bloßer Output-Orientierung

  • einer anerkannten Zertifizierung erworbener und übertragbarer Qualifikationen statt unmittelbarer Einsetzbarkeit,

  • einer korporatistischen Regelung der Zuständigkeiten statt auf Dominanz der Unternehmen,

  • einer kollektiven Absicherung von Einkommen, Zeiten und Arbeitsbedingungen statt Einzelverträgen.

Zu fragen ist (wenn sich Employability durchsetzt): Wo können noch Widerstandskräfte aufbrechen, wenn Anpassung immer schon als eigene Einordnung läuft? Erledigt sich die Aufgabe der Gewerkschaften bei der Gestaltung von Tätigkeitszuschnitten? Werden die Arbeitenden nun endgültig zu den „Lückenbüssern der Automation?


2. Akademisierung als Ende des „Dualen Systems“?

Widersprüchlichen Tendenzen ziehen sich durch alle Teilsysteme gesellschaftlicher Lernorganisation – bis hin zu den Hochschulen. Durch die Bachelorisierung sind die Hochschulen insgesamt zwar in Bewegung gekommen und der Zustrom wird breiter. Mittlerweile strömen mehr als die Hälfte eines Jahrgangs in die Hochschulen. Der OECD ist das immer noch zu wenig.

„In Deutschland erwerben so viele junge Leute wie noch nie einen tertiären Abschluss, etwa an einer Hoch-, einer Fachschule oder als Meister. Gleichzeitig wächst der Anteil an Hochgebildeten OECD-weit in kaum einem anderen Land so langsam wie hier. … Danach verfügen in Deutschland 28 Prozent der 25- bis 64-Jährigen über einen Tertiärabschluss, im Durchschnitt der OECD sind es 33 Prozent.“ (Pressemitteilung 10.1.2015 OECD)

Zur gleichen Zeit wird die „duale Berufsausbildung“ als Erfolgsmodell präsentiert, das in die ganze Welt exportiert werden soll. Eine solche Paradoxie ist logisch unauflösbar, politisch kann es aber durchaus schlüssig sein, das eine zu reden und das andere zu tun. Aber in beiden Lernsystemen werden Klagelieder lauter:
In den Hochschulen wegen mangelnden Erfahrungsbezugs, stärkerer Verregelung und wachsendem, permanent gewordenen Prüfungsdruck; in den Betrieben und Berufsschulen wegen fehlender Wissenschaftlichkeit, durchgreifender Verwertungsinteressen und schlechter Ausstattung.

Hauptproblem jedoch ist die fortbestehende, sich sogar noch verstärkende gesellschaftliche Sektion.
Dazu nochmals die OECD, die feststellt, dass sich die „soziale Kluft zwischen gut und weniger gut ausgebildeten Menschen in den vergangenen Jahren erheblich vertieft hat“. Und weiter:
In Deutschland ist die Einkommenslücke am ausgeprägtesten: „2012 verdienten Hochqualifizierte 74 Prozent mehr als Erwerbstätige, die nach der Realschule oder dem Gymnasium weder zur Uni noch zur Fach(hoch)schule oder in einen Meisterkurs gegangen waren. Im Jahr 2000 hatte dieser Vorsprung erst bei 45 Prozent gelegen.“ (ebd.)
(Wenn die OECD von „Hochqualifzierten“ spricht, sind Hochschulabsolventen gemeint.)

Entsprechen sich Defizitdiagnosen und die Qualifizierungsstrategien? Stehen nicht die Verteidiger des „Dualen Systems“ unter dem Verdacht, Ungleichheit zu rechtfertigen? Oder: Haben nicht die privilegierten Befürworter ganz andere Interessen als die Gewerkschaften? Ich frage das, damit wir uns vor den falschen Freunden schützen und vorschnell auf einen Konsens einlassen.


3. „Integration“ und „Synthese“

Wir betonen deshalb immer wieder die Notwendigkeit einer integrierten, für alle zugänglichen, öffentlich verantworteten und rechtlich verankerten auf Berufe vorbereitenden Bildung, die die traditionelle Trennung von „allgemeiner“ und „beruflicher“ Bildung Schritt für Schritt überwindet: Integration ist die zentrale Reformstrategie für das deutsche Bildungssystem. Fortgeführt wird dies in der Perspektive einer Synthese in der beide Systeme verschmelzen:
  • Es geht dabei zunächst um ein curriculares Problem, also von Fächern, Lehrplänen und Didaktik, d.h. um die Reichweite von Zielen, Inhalten und Methoden des Lernens zwischen ökonomischer Verwertung und personaler Aneignung. Damit ist aber auch die Organisation des Lernens aufgeteilt auf verschiedene Zuständigkeiten: Bund, Länder und Kommunen.

  • Zweitens geht es um die Anteile verschiedener Lernorte: Schulen, Betriebe und Bildungsträger, Arbeitsplätze, Lerninseln, Lehrwerkstätten, Trainingszentren, Unterrichtsstätten oder andere konzeptionelle Formen der Berufsbildung.

  • Davon ist drittens auch die Entscheidungszuständigkeit berührt, nämlich wie weit Planung, Durchführung und Auswertung der Lernprozesse beeinflusst werden können – von den Lernenden selbst, von Unternehmen, Sozialparteien, öffentlichen Gremien oder staatlichen Instanzen.

  • Juristisch – viertens spiegelt sich die Trennung in der Zuständigkeit für verschiedene Rechtsbereiche wider, so z.B. die des Bundes für das Arbeitsrecht gegenüber der der Kulturhoheit der Länder.

  • Damit sind dann auch entsprechende Verfügung über Ressourcen und daran anschließend die der Finanzierung verbunden.

Aber: Ist das alles gestaltbar „aus einem Guss“ – wie es im „Leitbild“ der IGM mehrfach formuliert wird? Ist da vielleicht nicht zu viel „Metall“ drin: in der Vorstellung einer vorhandenen Gussform? Würden wir nicht dazu ein fertiges Modell benötigen? Und was gibt uns die Hoffnung, dass eine entsprechende Modellstrategie, die z:B. in den Kollegschulen in NRW oder den OSZ in Berlin nur beschränkt erfolgreich war, nunmehr greift? Grundlage kann u. E. eher eine institutionelle und curriculare Konvergenzstrategie der Integration sein, die die Vorteile bestehender Teilsysteme zusammenführt: die Entwicklung eines wissensbasierten reflexiven Handlungskonzepts verbunden mit einer stärkeren Erfahrungsbezogenheit.

Aber haben wir das nicht schon alles? Sind nicht bereits im Wirtschaftsgymnasium, den Fach- und Berufsoberschulen, den Berufskollegs, den Berufsakademie, besonders in den „dualen Studiengängen“, im Zweiten Bildungsweg und schließlich im dritten Bildungsweg, schon Tendenzen angelegt, die die Lernsysteme durchlässig machen? Und: Ist tatsächlich das „duale Studium“ die Lösung? Wollen wir tatsächlich die Hochschulen in das Berufsbildungsgesetz einbeziehen?


4. Wissenschaftsorientierte-erfahrungsbasierte Beruflichkeit

Konsequent folgt, die Sackgassen bestehender Trennungen der kaum noch zu überschauenden konkurrierenden Bildungswege durch ein auf dem Prinzip der Beruflichkeit aufbauendes, allen ihren Bereichen gemeinsames Leitbild einer integrierten und auf den ganzen Lebenslauf bezogenen Bildung zunächst zu öffnen und schließlich zu beseitigen. Die Zielperspektive legt nahe, Elemente beider Lernwege auf der Grundlage wissenschaftlich begründeten Erfahrungswissens in erweiterter Beruflichkeit zu kombinieren. Nur in zweiter Linie ist das ein institutionelles Problem, vorrangig geht es um die Verknüpfung von Wissensformen auf der Ebene des Lernens.

Es ist bemerkenswert, dass selbst in den Wunschbildern der „Industrie 4.0“ neben zunehmender technisch-wissenschaftlicher Kompetenz Erfahrungswissen unverzichtbar bleibt. Durch Erfahrungswissen angereicherte Arbeitsweisen sind eher in der Lage, Planungsrisiken zu verringern, Produktionsstillstände zu abzufedern und Produktmängel zu vermeiden und vor allem: Kosten zu verringern. Auch bleibt die herkömmliche Vorstellung unterkomplex, menschliches Handeln werde einzig aus einer vorhergehenden, wissenschaftlich verallgemeinerten Erkenntnis folgen ohne die Wechselwirkung zwischen sinnlicher Wahrnehmung, spürendem Empfinden, bildhaften Assoziationen oder emotionalen Impulsen einerseits und der disziplinärer Systematik anderseits zu berücksichtigen. Systematisches, wissenschaftliches Wissen findet seine Korrektur in problem- und kontextbezogener Erfahrung.

Entscheidend für die Identifikationschancen in der Arbeit wird sein, inwieweit an den Arbeitsplätzen selbst Potentiale zu finden sind oder entstehen, um erweiterte Tätigkeits- und Lernchancen der Beschäftigten – menschenwürdige Arbeit – einzubringen.

Die Behauptung, auf die die Befürworter eines fortschreitenden Akademisierungsprozesses abstellen, ist jedoch, dass zunehmend abstraktes, formales Wissen benötigt und deshalb die betriebsbezogene und beruflich gefasste Ausbildung zum Auslaufmodell werde. Damit wäre der Hinführung auf eine erweiterte Beruflichkeit der Weg versperrt.

Beruflichkeit ist aber zweifellos untrennbar mit dem arbeitenden Subjekt verbunden. Gerade daraus entstehen Handlungs- und Gestaltungs- sowie auch Widerstandspotentiale. Die Sehnsucht nach eigener unverwechselbarer Identität korrespondiert mit dem Leitbild erweiterter Beruflichkeit. Es sind die Subjekte selbst, die lernen, Gestalter ihres Wissens und Handelns zu werden, ihre eigene Biographie zu erzählen und herzustellen.

Dabei sind, wenn wir eine arbeitsorientierte Strategie vorantreiben wollen, zwei Handlungslinien zu verfolgen: Erstens: Es muss deutlich auf die Gestaltbarkeit auch der Arbeitsplätze verwiesen werden. Dies kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn die Beschäftigten selbst einbezogen sind. Dafür braucht es zweitens für die Beteiligten eine offensive Entwicklung gestaltungs- und beteiligungsorientierter Kompetenzen. Diese wird nicht in crash-Kursen vermittelt. Der Erwerb von Erfahrungswissen wie von wissenschaftlichem Wissen benötigt einen ausreichenden Zeitrahmen, der der Atemlosigkeit von „Employability“ entgegensteht.


Peter Faulstich

Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 16.03.2015