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Peter Faulstich

Lernorte – Flucht aus der Anstalt

Systemtheoretisch gesprochen: Es ist ein Kennzeichen moderner Gesellschaften, dass eine horizontale Funktionsteilung zwischen verschiedenen Teilsystemen stattfindet. Lernsysteme entstehen mit der Funktion, die Aneignung gesellschaftlichen Wissens zu unterstützen und zu gewährleisten: Klöster, Universitäten, Schulen, Bildungsvereine, Kindergärten. Diese grenzen sich ab gegenüber anderen Partialsystemen wie der Politik, der Kultur, der Ökonomie, der Gesundheit u.a. Sie sind gekennzeichnet durch spezifische interne Strukturen bezogen auf die Kommunikation zwischen den Mitgliedern – von Schülern und Lehrern bis zu Dozenten und Teilnehmenden, durch Finanzströme und Machtstrukturen: Es erfolgen Inhaltsfestlegungen der Wissensauswahl in Lehrplänen. Es bilden sich interne Institutionen vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung heraus. Festgelegt werden Zeitregeln für Unterrichtsabläufe wie Schulbeginn, Schulstunden, Semesteranfang, Vorlesungsdauer. Lernen hat seine Orte, die auch als Räume abgegrenzt sind von Fabriken, Wohnhäusern und Kliniken – getrennt vom »richtigen« Leben.

Wie alle Institutionen tendieren auch Lernsysteme dazu zu versteinern, zu veralten, überholt und widersinnig zu werden: Eine Schulstunde dauert 45, eine Vorlesung 90 Minuten. Lerntakte werden erzwungen durch das Ertönen der Klingel. Menschliches Lernen jedoch folgt nicht der physikalischen Zerlegung von Raum und Zeit. Trotzdem werden Traditionen in Routinen fortgeführt, auch wenn sie nicht mehr legitimiert werden können.

Im Gegenzug gibt es deshalb immer wieder Wellen von Ausbruchsversuchen: die Studentenbewegung in den 1830er Jahren, die Wandervögel und die Jugendbewegung um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, die Studenten- und Lehrlingsbewegung nach 1960. Je fester das Korsett der Anstalten geschnürt wird, desto wilder werden die Befreiungsversuche. Als theoretisches Sprachrohr solcher Bewegungen kann die Reformpädagogik mit wechselnden Liedern gehört werden.

Festlegungen, Einschränkungen und Unsinnigkeiten bewirken Lernwiderstände. Vorgängige, als problematisch erinnerte Lebens und Lernerfahrungen wirken fort. Zum einen gibt es eine Lernmüdigkeit: Lernschranken aufgrund negativer Erfahrungen mit Lernanstalten und Lernhemmnisse durch soziale Herkunft, wenn zum einen negative Resultate aus schulischer Vergangenheit und zum anderen milieuspezifische Kontexte verarbeitet werden müssen. Problematische Hindernisse sind die Schulerfahrungen: In der Schule war ich nie gut. Ich habe dieses Lernen satt. Ich hasse diese Lehrer. Soll ich denn nun wieder die Schulbank drücken?

Zum anderen entstehen Lernschwierigkeiten aufgrund fehlender Lerngründe, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernbemühungen und –anstrengungen nicht nachvollziehbar ist: Wofür brauche ich das noch? Was habe ich davon?

Daraus ergeben sich Beeinträchtigungen der Lern- und Gedächtnisleistungen. Alle diese Lernschwierigkeiten können aber weitgehend kompensiert werden, wenn deutlich wird, dass die erworbenen Fähigkeiten gebraucht und sinnvoll eingesetzt werden. Der reformpädagogische Impetus setzt dabei vor allem auf die Unmittelbarkeit eigener Erfahrungen, welche die Lernanstrengungen begründen und verorten sollen.


Schulmüdigkeit

Lernwiderstände galten schon für die ersten geschlossenen Bildungsanstalten, die Klöster, und in ihrer Nachfolge im Lehrlingswesen, in Internaten und besonders Kadettenanstalten, in denen Kinder und Jugendliche – Heranwachsende – geknechtet, gedemütigt, gezüchtigt, gebrochen und angepasst wurden.

Das Leiden hinter den Mauern schien gerechtfertigt durch eine anonyme Ordnungsmacht und steigerte sich bis zum Selbstmord. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele.

»Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (1906) ist der erste Roman des Schriftstellers Robert Musil (1880-1942). In diesem Entwicklungsroman mit vielen autobiografischen Elementen verarbeitet Musil seine eigenen Erlebnisse in den Kadettenanstalten von Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen.

»… hier erhielten die Söhne der besten Familien des Landes ihre Ausbildung, um nach Verlassen des Instituts die Hochschule zu beziehen oder in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, und in allen Fällen sowie für den Verkehr in den Kreisen der guten Gesellschaft galt es als besondere Empfehlung im Konvikte zu W. aufgewachsen zu sein. … Weder die Unterrichtstunden, noch die Spiele auf den großen, üppigen Wiesen des Parkes, noch die anderen Zerstreuungen, die das Konvikt seinen Zöglingen bot, vermochten ihn zu fesseln; er beteiligte sich kaum an ihnen. Er sah alles nur wie durch einen Schleier und hatte schon unter Tags häufig Mühe, ein hartnäckiges Schluchzen hinabzuwürgen; des Abends schlief er aber stets unter Tränen ein.« (Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Reinbek 1959)

Schon das Wort Zögling gibt Anlass zum Nachdenken: Er wird geradegezogen wie in einer Pflanzkiste und den anderen angepasst. Die Leidensberichte in der Literatur ließen sich beliebig vermehren. Es gibt kaum einen Künstler, der nicht die Schulzeit als peinigend, entwürdigend, langweilig und denkverhindernd geschildert hat. Nur noch ein weiteres Beispiel: Der französische Autor Jacques PrĂ©vert (1900-1977), Lyriker und Chansonist, hat mehrere Gedichte über die Verlorenheit der Kinder als Schulinsassen geschrieben:


Der schlechte Schüler

Mit dem Kopf sagt er nein
Doch er sagt ja mit dem Herzen
er sagt ja zu allem was er liebt
er sagt nein zu seinem Lehrer
er steht aufrecht
man befragt ihn
und alle Aufgaben sind gestellt
als plötzlich
ein tolles Lachen ihn befällt
und er löscht alles aus
die Wörter und die Zahlen
die Daten und die Namen
die Sätze und die Qualen
Und den Drohungen des Lehrers zum Trotz
Unter dem Geschrei der Musterschüler
Zeichnet er mit Kreiden in allen Farben
Auf die schwarze Tafel des Missgeschicks
das Angesicht des Glücks.


Rechenstunde

Zwei und zwei sind vier
Vier und vier sind acht
Acht und acht sind sechzehn
Aber da fliegt der Wundervogel
am Himmel vorbei
Das Kind sieht ihn
Das Kind hört ihn
Das Kind ruft ihn
Rette mich
Spiel mit mir
Vogel!
Da schwebt der Vogel nieder
und spielt mit dem Kind
Zwei und zwei sind vier
Wiederholen! Sagt der Lehrer
Und das Kind spielt
Der Vogel spielt mit ihm
Vier und vier sind acht …

(Jacques Prévert, Gedichte und Chansons, Reinbek 1964)

Der Lehrer wird zum Symbol des Zwangs, der Vogel zum Symbol der Freiheit. Konsequenzen sind Schulmüdigkeit, Schulangst, Schulflucht und Schulabbruch.

Eine frühe Gegenströmung entstand in der Jugendbewegung. Am Anfang steht seit 1896 die Wandervogelbewegung. Ihr Motto lautet: Hinaus in die Ferne! Die Jugendbewegung entwickelte sich aus einem antibürgerlichen Affekt: Bürgerliche Jugendliche wollten im bewussten Gegensatz zur Alltagswelt in der Schule und der Familie auf Ausflügen und Wanderfahrten gemeinsam die Natur erleben. Das Motiv Zurück zur Natur korrespondierte mit einem bewussten, mit Anklängen an die Romantik verbrämten Rückgriff auf Traditionen, was in Kleidung, Heimat- und Liederabenden, Lagerfeuer-Feiern und Volkstanz seinen Ausdruck fand. Diese sozialromantische Haltung war auch eine als unpolitisch gekennzeichnete Antwort auf die zunehmenden sozialen Probleme, die die fortschreitende Industrialisierung und die damit einhergehende Verstädterung mit sich brachten. Die Alternativbewegungen setzen sich fort bis in die Universität, wo z.B. das Projektstudium Anwendungsbezüge herstellen soll; sie fangen schon an in den Waldkindergärten, wo ein Naturerlebnis die Kleinen begeistern kann: Was lernt man von einem Igel?


Vielfalt der Erwachsenenbildung

Erwachsenenbildung war immer schon offener für Lebenserfahrungen. Allerdings gibt es auch hier merkwürdige Paradoxien. Je weiter unmittelbare Erfahrung und verallgemeinertes Wissen auseinandertreten, desto schwieriger werden die Vermittlungsversuche. Am deutlichsten wird das in der Tradition der Vorleser, die sich die gutbezahlten Zigarrenmacher leisten konnten. Parallel zur Arbeit wurden Texte rezipiert und auch diskutiert:

»Und so wurde denn ein Ehrliches und Erbauliches gelesen: dann einmal aus Virgils ›Aeneis‹ und dann Gedichte von Herwegh und Freiligrath, dann auch Rousseaus ›Emile‹ und dann die ›Regulatoren aus Arkansas‹ von Gerstäcker, dann aus Humboldts ›Kosmos‹ und dann Spielhagens ›Hammer und Amboß‹, dann aus Schlossers Weltgeschichte und dann Lassalles Arbeiterprogramm, dann aus Thiers ›Geschichte der französichen Revolution‹ und dann Hufelands ›Makrobiotik‹, dann Vossens ›Luise‹ und Gellerts Fabeln und dann wieder Hackländer und Ferdinand Lassalle…«

Die Beispiele zeigen, dass Lernen am Arbeitsplatz nichts mit Lernen für die Arbeit zu schaffen hatte. Die Freiheit der Gedanken löste sich ab von dem Zwang der Erwerbstätigkeit.

Im Spannungsfeld von Erfahren und Begreifen bewegen sich alle Volksbildungseinrichtungen. Auch die Bücherauswahl der Bibliotheken und der Spielplan der Theater muss immer wieder neu entscheiden zwischen unmittelbarer Aktualität und Agitation einerseits und verallgemeinerter Ästhetik und Reflexion andererseits. Als gelungenes Konzept werden oft die Heimvolkshochschulen genannt, die anknüpfen an der Arbeits- und Lebenswelt der Teilnehmenden und diese mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu vermitteln versuchen. Auch die gewerkschaftlichen Bildungsstätten sind Lernorte, die versuchen, Funktionalität und Reflexion zu verbinden (vgl. den Beitrag von Martin Allespach in diesem Band). Trotzdem entstehen auch hier vergiftete, »kontaminierte« Lernverhältnisse, welche die Grenzen institutionellen Lernens aufzeigen.


Institutionenkritik

Dass diese Probleme nicht durch den guten Willen der Beteiligten aufzulösen sind, sondern strukturell als Machtverhältnissen in den Institutionen fixiert sind, hat der französische Philosoph Michel Foucault gezeigt. In »Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses « (1977) hat er eine radikale Kritik vorgelegt. Extremstes Beispiel für einen Versuch, Lernen zu erzwingen, ist der Gefängnishörsaal. Beim Vortrag des Direktors über die schlimmen Folgen des Alkoholismus (Foucault 1977: Abb. 28) sind die Körper der Gefangenen im Raum fixiert; sie sind hierarchisch untergeordnet und überwacht; sie sind dem zwingenden Blick der Instanzen der Disziplin – der Wärter – ausgesetzt.

Manche Hörsäle an Universitäten sehen gar nicht völlig anders aus. Die Autorität des Professors wird durch die Assistenten gesichert und die festen Stuhlreihen erzwingen eine hierarchische Ordnung. Viele Kritzeleien und Einkerbungen auf den Klapptischen belegen kleine Widerstände gegen die allgegenwärtige Macht, die Wissen eintrichtern will.

Solche Beispiele zeigen, wie »defensives Lernen« – ein Lernen, das der Bedrohungsabwehr dient – im institutionellen Kontext »kontaminierte Lernverhältnisse« erzwingt. In Lernanstalten werden Aneignungsverhältnisse durch die Anordnung von Sachen und menschlichen Körpern festgelegt, indem »durch räumliche und interpersonale Arrangements bestimmte Handlungen und Beziehungen der Insassen ermöglicht und andere unterbunden werden« (Holzkamp 1993: 347). Dies ist, Foucault folgend, an den der Psychologe Klaus Holzkamp (1927-1995) anschließt, Teilaspekt der »Disziplinen«, allen voran des Gefängnisses, sodann des Militärs, des Hospitals, der Werkstatt und der Schule – insgesamt Manifestationen eines neuen Typs apersonaler Macht. Die »Machtökonomie« im Innern der Institutionen trägt durch Strategien, Manöver und Technologien die Durchsetzung und Reproduktion von Machtverhältnissen.

»Diese Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen, kann man die ›Disziplinen‹ nennen.« (ebd. 175) Deren Wirksamkeit ist nicht gebunden an ein angebbares Machtzentrum, noch an beschreibbare Klassenstrukturen und auch nicht an identifizierbare einzelne Akteure. »Die ›Disziplin‹ kann weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert werden. Sie ist ein Typ von Macht; eine Modalität der Ausübung von Gewalt; ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist eine ›Physik‹ oder eine ›Anatomie‹ der Macht, eine Technologie« (ebd. 276/277). Daraus resultiert ein komplexes Netz apersonaler Macht multipler Herkunft, das bis in die Poren die Disziplinargesellschaft formiert. In der Foucaultschen Rhetorik mit ihrem überallgemeinen Erklärungsanspruch wird eine Allgegenwart von Macht unterstellt, welche die Institutionen und die Akteure durchdringt.

Die Disziplinanlagen des Lernens – deren Prototyp die Schule ist, deren Zwangscharakter sich aber zum Beispiel in »Maßnahmen« beruflicher Weiterbildung sogar noch potenziert – kontrollieren die Lernenden, indem sie diese in Zeit und Raum fixieren. Ein Gleichlauf von Lernzeiten und Lerngeschwindigkeiten wird vorgegeben, um Ordnungen durch Dressur zu erzwingen; Schulungsräume und Trainingszentren erzeugen Klausur und Isolation, indem sie Lernen und Anwenden trennen; zwischen Unterrichtenden und Lernenden besteht eine Hierarchie durch Vorwissen und Status; Noten bezwecken Selektion. »Disziplinaranlagen« produzieren lernverhindernde Konsequenzen – zusammengefasst:
  • Klausur/Isolation, indem Lernen und Handeln auseinanderfallen und Lernorte von Arbeitsorten und Lebenswelt räumlich getrennt werden;

  • Hierarchie durch die Unterordnung der Lernenden unter die Lehrenden;

  • Dressur durch Training vorgegebener Kompetenzen ohne Bezug auf Anwendungsmöglichkeiten;

  • Zeitökonomie durch die Vorgaben meist zu knapp bemessener Lernzeiten und durch einen Gleichlauf der Lerngeschwindigkeiten;

  • Selektion/Zertifikate zur Herstellung von Rangordnungen und Auslese;

  • Kontrolle durch die Disziplin der Institutionen.

Kontexte expansiver Lernensembles

Die disziplinierenden Aspekte erzeugen aber gleichzeitig auch Widerstandspotenziale und Gestaltungsoptionen. Das Kontrastprogramm geht davon aus, expansives – Handlungsmöglichkeiten erweiterndes – Lernen zu unterstützen. Dies setzt allerdings voraus, die Denkfigur instrumenteller Lernformierung durch ein höheres Diskursniveau, das die kontaminierenden Strukturen der Bewertungsuniversalität und disziplinärer Unterdrückung bedenkt und sie nicht als beliebig verfügbar unterstellt, zu überschreiten. Reflexive Aspekte unterstützender Lernensembles sind kontrastiv zu Disziplinaranlagen – zusammengefasst:
  • Bedeutsamkeit der Lernthemen für die Lebensinteressen der Lernenden;

  • Möglichkeiten kooperativen und partizipativen Lernens;

  • Herstellung von Zeitsouveränität

  • Zertifikate nicht als Kontrolle, sondern als Belege für Lernfortschritte

  • Partizipation der Lernenden an der Planung, Durchführung und Auswertung von Kursen und Programmen.
Reflexive Lernensembles sind nicht herzustellen oder in den Griff zu
bekommen. Sie setzen die Beteiligung der Lernenden selbst voraus.
Der Grad der Selbstbestimmtheit, das heißt das Ausmaß, in dem die
Individuen Initiative, Organisation und Kontrolle für ihr eigenes Lernen
sowie den Aneignungsprozess haben, ist ausschlaggebend für
die Erfolgschancen expansiven Lernens.


Erleben und Verstehen

Kompensiert wird Lerndisziplin partiell durch »Erlebnispädagogik«, welche aber in Gefahr schwebt, nun umgekehrt auf den Event und den Kick zu setzen, das Verstehen zu vernachlässigen. Erlebnispädagogik setzt stark auf alternative Lernorte, z.B. auf das Hochgebirge, die See, die Wüste oder auf den Dschungel.

Relevant, d.h. im Sinne des Durchbrechens von Routine, werden Ereignisse erst dann, wenn sie zugespitzt werden als Erlebnis. Dabei ist dieser Begriff in der Diskussion merkwürdig blass. Dies gilt für die erlebnispädagogische Literatur ihres Begründers Kurt Hahn (1996-1974) bis zu den Hochseilgärten-Berichten. Es geht sicher nicht darum, jeden Adrenalinkick einer Event-Kultur unter dieses Wort – Erlebnis – zu fassen. Nicht jedes Amüsement ist ein Erlebnis. Und Erlebnisse können auch Lernen verhindern, wenn sie zu einfache Antworten geben, statt auf Fragen zu stoßen.

Vielmehr geht es um Routinen durchbrechende, herausgehobene Erlebnisse, die Nachdenken provozieren, um ein Überschreiten des Alltags, das im Spannungsfeld von Verfügungserweiterung und Bedrohung sowie von Emotionalem und Kognitivem querliegt zu den routinisierten Zyklen, diese aufbricht und scheinbare Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Erlebnisse stehen in gewisser Weise vertikal zur Kontinuität des Alltags.

Erlebnisse sind auch nicht bloß emotionale Färbungen psychosozialer Konstrukte. Wissenschaftlich ambitioniert fällt einem der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) ein und der zentrale Stellenwert des Begriffs in der geisteswissenschaftlichen Theorie. Dilthey betont die Relation zwischen Erleben und Verstehen: »Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen. « (Dilthey 1970: 173)

Erlebnisse können nicht durch immer raffiniertere Lernarrangements erzeugt wer den. Vielmehr werden sie von den Lernenden selber erfahren. Deshalb spielt die eigene Aktivität in der Lerntätigkeit eine besondere Rolle. Um dies in einer Formel zuzuspitzen: Erlebnisse können in der sinnlichen Erfahrung den Horizont öffnen für ein Verstehen der Bedeutsamkeit von Artefakten, Apparaten und Systemen, welche die eigene Lebenssituation prägen und deshalb die eigenen Lebensinteressen betreffen. Der Rückbezug auf die sinnliche Erfahrung kann dann in den besten Fällen eine ästhetische Qualität erhalten.

Ein dementsprechender, umfassenderer Lernbegriff hat seine Ursprünge bei dem US-amerikanischen Pragmatisten John Dewey (1859-1952) in seiner Theorie von Erfahrung und Handlung. Er hat 1938 eine Reihe von Vorträgen über »Experience and Education« gehalten und dabei »traditionale« und »progressive« Erziehung unterschieden. Die »progressive Sichtweise« geht nach Dewey davon aus, dass es sich beim Lernen um interne Prozesse handelt, bei denen der Einzelne Erfahrungen sammelt und Kenntnisse erwirbt. Wissen, das in der »traditionalen Erziehung« vermittelt wird, besteht aus Kenntnissen und Fertigkeiten, die von anderen in der Vergangenheit erworben wurden. Die Lernenden sollen sich dabei weitgehend passiv und gehorsam verhalten. Die »progressive Erziehung« dagegen stellt der Belehrung von oben die Notwendigkeit einer freien Entwicklung der Individualität des Lernenden gegenüber. An die Stelle von außen erzwungener Disziplin tritt die freie Tätigkeit (»free activity«) des Lernenden; an die Stelle eines Lernens von Texten tritt das Lernen durch Erfahrung. Dies allein aber kann – so Dewey – das Gelingen eines Lernprozesses nicht sichern. Erfahrung allein vermittelt noch keine Einsicht. Routine-Erfahrungen, die nichts Neues anregen, so betont Dewey, bleiben wirkungslos. Erfahrung und Bildung können nicht unmittelbar gleichgesetzt werden. Einige Erfahrungen verführen zu Unbildung (mis-educative). Sie verführen dazu, spätere Entwicklungen zu blockieren und zu verdrehen. Auch wenn sie lebensnah, lebendig und interessant sind, kann Unverbundenheit verworrene Einstellungen erzeugen (Dewey 1953: 13-14). Dewey verweist darauf, dass der Begriff Erfahrung nicht selbsterläuternd ist: Erfahrungen sind nicht selbsterklärend, sie sind Teil des zu klärenden Problems (Dewey 2002/1938: 13). Entscheidend im Lernvorgang ist für Dewey die Qualität der Erfahrung. Sie ist kein naturwüchsiger Prozess, sie muss vielmehr organisiert werden.

An anderer Stelle führt Dewey den Begriff des »kollateralen Lernens « ein. Er betont, dass dieses oftmals wichtigere Resultate hervorbringt als der formale Unterricht (»lessons«). »Kollaterales Lernen« darf dabei nicht als bloß beiläufiges (inzidentes) Lernen missverstanden werden. Es handelt sich um einen Lernvorgang, der an die Vorerfahrungen des Lernenden anknüpft, diesen aber zu weiterem Wissenserwerb führt. Hier grenzt sich Dewey ab von dem, was später – in einer überzogenen Fassung – als »selbstbestimmtes Lernen« (Tough 1979; kritisch dazu Faulstich/Gnahs 2002) oder »free choice learning« (Falk) bezeichnet wurde. Im Gegensatz zum beiläufigen Lernen ist bei »kollateralem Lernen« Vermittlung mitgedacht. Damit führt Dewey seine Konzeption bis an das Konzept heran, das Klaus Holzkamp als »partizipatives Lernen« (Holzkamp 1993) bezeichnet.

Holzkamp hat mit seiner wissenschaftstheoretischen Kehrtwendung vom Bedingtheits- zum Begründungszusammenhang (Holzkamp 1993) die Grundlage für eine Sicht auf Lernen ausgehend von den Interessen der Lernenden gelegt. Er begreift diese als Intentionalitätszentrum, von wo aus den Thematiken Bedeutsamkeit zugewiesen wird. Lernen kann insofern »expansiv« – die Weltsicht und -verfügung erweiternd – werden, als es den Sinn, sich mit einem Gegenstand auseinanderzusetzen, aufnimmt.

Kritisch-pragmatistische Lerntheorie (Faulstich 2008) ist gekennzeichnet durch die zentrale Rolle des Erfahrungsbegriffes und die hohe Relevanz der Interessenorientierung, welche die Bedeutsamkeit für die Lernenden aufnimmt. Insofern ist ein solcher Ansatz für die Frage der Vermittlung von Erfahrung und Einsicht an verschiedenen Lernorten besonders geeignet.


Lernortvielfalt

Lernwiderstände (Faulstich/Bayer 2006) entstehen schon durch die Abneigung der Adressaten, nun wieder die Schulbank drücken zu müssen. Angesichts schlechter Erfahrungen mit Schule und Lehrern hat sich bei vielen Lernmüdigkeit ausgebreitet. Lernen an anderen Orten bietet Alternativen.

Lernen am Arbeitsplatz ist weitverbreitet. Museen und Bibliotheken waren traditionell immer schon einbezogen in Erwachsenen- und Arbeiterbildung. Science Centers, Zoos und Botanische Gärten sollen Reste von Natur bewahren und erfahrbar machen. Das Internet gehört zunehmend zu Lernangeboten. Aber auch Exkursionen und Reisen, Stadterkundung und -gestaltung können genutzt werden, um aus Seminarräumen auszubrechen.

Für Lernen in der Weiterbildung und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist das Lernen an anderen Orten eine Chance, schulische Belehrungen abzuschaffen und eigene Erfahrungen der Teilnehmenden aufzugreifen. Konkrete Probleme, die anknüpfen an den Interessen der Lernenden, können so aufgenommen werden. »Expansives Lernen« wird gestützt durch die Möglichkeit, bei der Nutzung unterschiedlicher Lernorte die eigenen Lernanstrengungen sinnvoll mitzugestalten.


Berufsschule und Arbeitsbezug

Die Berufsschulen sind in ihren Ursprüngen Resultat einer beginnenden Ablösung von Arbeiten und Lernen. Erst mit dem Auseinandertreten von familien- und arbeitsintegriertem Lernen und systematischem Wissen erhalten Lernorte ihre spezifsche Erziehungs- und Bildungsfunktion. Die Fortbildungsschulen sollten die Lücke zwischen arbeitsgebundenem Lernen und wissenschaftsbezogenem Wissen durch systematische Aneignung ausgleichen (Pätzold/Goehrke 2006: 25). Gewerblichen und kirchlichen Sonntagsschulen wurde diese Aufgabe zugewiesen. Aber auch die Arbeiterbildungsvereine erfüllten teilweise das Bedürfnis nach naturwissenschaftlichen Qualifikationen oder allgemeinen Fertigkeiten wie Zeichnen und Rechnen. Gerade die Handwerkervereine hatten eine starke berufsbildende Orientierung. Der Begriff Lernort wurde aber erst in den Empfehlungen zur Neuordnung der Sekundarstufe II vom Deutschen Bildungsrat 1974 in die pädagogische Fachsprache und den bildungspolitischen Sprachgebrauch eingeführt. Die von der Bildungskommission genannten Lernorte (Schule, Betrieb, Lehrwerkstatt und Studio) erhalten unterschiedliche Funktionen im Lernprozess. Es ist mittlerweile selbstverständlich, von einer Pluralität der Lernorte auszugehen (Münch 1977).


Während meiner Arbeit auf verschiedenen Baustellen musste ich beim gleichzeitigen Besuch der Berufsschule eine völlige Abtrennung der Lerngegenstände feststellen. Die Tätigkeit auf dem Bau und das Sitzen in der Berufsschule hatten kaum etwas miteinander zu schaffen. Dazu kam, dass man in der Schule meist viel zu müde war, um dem belehrenden Unterricht zu folgen.


Die Trennung von Arbeiten und Lernen hat dann zu einer Aufspaltung der Lernorte Betrieb und Berufsschule geführt. Die Erfolge der eigenen Arbeitsergebnisse, der Einbezug in Arbeitszusammenhänge, die sinnliche Erfahrung der Arbeitsgegenstände gehen verloren. Im Gegenzug zur Vermittlung »trägen Wissens« ist deshalb »Lernen im Prozess der Arbeit« wieder aktiviert worden (vgl. den Beitrag von Peter Dehnbostel in diesem Band). Eine Reintegration von Arbeiten und Lernen wird als Ansatz gesehen, um Schulmüdigkeit zu überwinden.


Wir waren im Zusammenhang der Arbeit der »Sachverständigenkommission Finanzierung beruflicher Bildung« (Edding-Kommission) schon Mitte der 1970er Jahre mit der ersten Welle jugendlicher Erwerbsloser konfrontiert. Zumeist waren dies Jugendliche, die keinen Schul- und Berufsabschluss erreichten. Schule war für diese Gruppe das schlechteste Modell, um nachträglich solche Abschlüsse zu erwerben. Nähe zur Arbeit schien geeigneter. Der Lernort Kneipe jedoch hat sich nicht durchgesetzt.


Bibliotheken

In der Lernort-Vielfalt hat schon der Deutsche Bildungsrat dem Lernort Studio auch die Bibliothek zugeordnet. Die Geschichte ist älter: Unter der Sammelbezeichnung Lesegesellschaften entwickelten sich bereits seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts unterschiedliche Formen gemeinsamen Zugriffs auf »Lesestoff« (Dülmen 1986), von der losen Form bloßer Gemeinschaftsabonnements über Umlauflesezirkel bis hin zu klubähnlichen Einrichtungen mit eigenen Räumlichkeiten. Angesichts der hohen Mitgliedsbeiträge blieben der niedere Adel und das gehobene Bürgertum oft unter sich. Die Gründung ging meist von den Dorf- oder Stadthonoratioren aus. Die Mitgliederzahl bewegte sich meist zwischen 60 und 120. In Deutschland bestanden bis zum Jahr 1800 rund 430 solcher Einrichtungen – selbst in Gemeinden unter 1.000 Einwohnern. Spätere Einrichtungen, die dem Lesebedürfnis der Mehrheit der lesefähigen Bevölkerung entgegenkamen, waren die Leihbibliotheken.

Die Idee von allgemeinen öffentlichen Volksbibliotheken, z.B. als »Dorfbibliotheken«, ist in Deutschland durch Heinrich Stephani (1761-1850) schon 1797 geäußert worden. Mit der Entstehung eines Industrieproletariats trat eine neue Klasse in Erscheinung. Für verschiedene Organisationen und Instanzen bildete dies den Anstoß, der breiten Masse Bücher zugänglich zu machen, um durch Beseitigung von Bildungsgegensätzen Klassengegensätze zu überwinden. In dieser Absicht entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Netz von kleinen, öffentlich zugänglichen Volksbibliotheken, die von christlich-konservativen Vereinen katholischer oder protestantischer Prägung, im Gegenzug aber auch von sozialistischen Arbeitervereinigungen geprägt wurden.

So sammelten die sozialistischen Arbeiterbildungsvereine in erster Linie die politische, freiheitliche Dichtung sowie Werke von Marx, Feuerbach etc. Die Arbeiterbibliothek war der Versuch der sozialistischen und kirchlich-sozialen Bewegungen nach 1840, entsprechend ihrem Menschenbild das Massenelend in den Industriezentren durch verstärkte Bildungsangebote zu mildern und gleichzeitig den Einfluss der als schädlich empfundenen Belletristik kommerzieller Leihbibliotheken einzudämmen.

Erst 1898 wurde die erste kommunale öffentliche Bibliothek in Charlottenburg ins Leben gerufen. Neben Neugründungen wurden vielerorts auch die bestehenden Volksbibliotheken im Sinne der Bücherhallenbewegung reformiert. 1902 waren gemäß dem Statistischen Jahrbuch deutscher Städte von den 179 öffentlichen Bibliotheken lediglich 70 städtische Anstalten. Neben den Vereinen waren es ebenfalls Firmen, die sich aktiv an der Gründung und finanziellen Unterstützung von öffentlichen Bibliotheken beteiligten, wie etwa in Jena (Carl Zeiss) oder in Essen (Krupp) (vgl. den Beitrag von Jana Trumann in diesem Band).


Ich habe jahrelang die Werksbibliothek der Farbwerke Höchst AG genutzt, die u.a. über Kunstbildbände verfügte, die ich mir nicht leisten konnte.


Museen

Ein Museum (ursprünglich das Heiligtum der Musen, welche Schutzgöttinnen der Künste, Kultur und Wissenschaften waren) ist eine Institution, die eine Sammlung interessanter Gegenstände für die Öffentlichkeit aufbewahrt und Teile davon ausstellt. Die weitgehend anerkannte und immer wieder zitierte Beschreibung der Museumsfunktionen stammt vom International Council of Museums (ICOM), das ein Museum definiert als »eine gemeinnützige, ständige, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienst der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zu Studien-, Bildungs- und Unterhaltungszwecken materielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt«.

Ziel eines Museums ist es also, Dinge zu einem bestimmten Thema (Kunst, Technik, Natur, aber auch Brot, Glas, Salz u.a.) fachgerecht wissenschaftlich aufzuarbeiten, dauerhaft aufzubewahren und den Besuchern zugänglich zu machen. Eine besondere Rolle spielen Universitäts-, Sammler-, Privat-, Firmenmuseen und kirchliche Museen. Sie erhalten und präsentieren die historischen Sammlungen der Betriebe oder Konzerne.

Museen gingen oftmals aus Wunder- bzw. Kunstkammern des Adels oder kirchlicher Würdenträger oder speziellen privaten Kunstsammlungen hervor. In einigen Städten im deutschen Sprachgebiet kam es im 19. Jahrhundert zu bürgerlichen Neugründungen: Kunsthalle Bremen, Städelsches Kunstinstitut in Frankfurt, Hamburger Kunsthalle, Kunsthalle Wien, Museum Wiesbaden etc. Vielfach sind jedoch Vereine in kleinerem Stil bzw. für lokale Gegebenheiten tätig geworden, z.B. Bezirks- oder Bergbaumuseen. In Kassel wurde 1779 das Fridericianum gebaut. Es war nach dem Britischen Museum das zweite öffentliche Museum, aber das erste als Museum konzipierte Bauwerk der Welt.


Meine ersten Museumsbesuche waren im Städelschen Kunstinstitut während meiner Schulzeit. Ich blieb lange vor einem Bild von dem Inneren eines Zirkuswagens, gemalt von Max Beckmann, stehen. Auf einmal war dieses Bild Ausdruck meines – damaligen – Weltgefühls: Enge, Aggression, Fluchttendenzen.


Die Gemälde lösen sich nicht auf in Abbildungen, noch die raffiniertesten Reproduktionen und virtuellen Repräsentationen ersetzen das Original nicht. Es gibt eine Würde der Dinge in ihrer Einmaligkeit (vgl. den Beitrag von Erik Haberzeth in diesem Band).


Science Centers, Zoos, Botanische Gärten

Eine der neuesten Lernortformen sind die Science Centers. Eine der ältesten Lernortformen sind die Zoos als für Besucher zugängliche Anlagen zur Haltung von Tieren. Zoos dienen der Bildung, Forschung, Erholung und dem Naturschutz, zum Beispiel durch Nachzucht seltener Tiere und deren Auswilderung. Der älteste noch bestehende Zoo der Welt ist der 1752 durch Franz I. Stephan begründete Tiergarten Schönbrunn in Wien. Er war zunächst eine höfische Menagerie mit privatem Charakter und öffnete erst 1778 seine Tore für die breite Öffentlichkeit.

Ein Science Center ist die Umsetzung eines Ausstellungskonzeptes, in dem versucht wird, den Besuchern mittels »Learning by doing «, das heißt durch eigenständiges, spielerisches Experimentieren in »Mitmachausstellungen« technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Phänomene nahezubringen. Die Exponate in einem Science Center erfordern Mittun, statt »Berühren verboten« gilt »Anfassen erwünscht«. Im Gegensatz zu Naturkundemuseen besitzen die meisten Science Center keine eigenen Sammlungen, die zur Forschung dienen. Als erstes Science Center wurde 1969 das Exploratorium San Francisco eröffnet, das von Frank Oppenheimer initiiert wurde. Ziel ist die Aufklärung über die moderne Wissenschaft und Technik sowie die Anregung zur eigenständigen Auseinandersetzung. Die menschlichen Sinne konstituieren das Ordnungsprinzip des Exploratoriums: Gehörsinn, Gesichtssinn, Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn sowie die Sinne zur Kontrolle des Gleichgewichts, der Fortbewegung und des Hantierens. Als erstes deutsches Science Center wurde das Berliner Spectrum 1982 eröffnet. Bereits 1980 wurden in Flensburg unter dem Begriff Phänomenta erste Science-Center-Experimentierstationen aufgebaut. Neugründungen sind das Universum in Bremen, das seit September 2000 geöffnet ist, und das von Zaha Hadid architektonisch gestaltete Science Center Phæno in Wolfsburg, das am 24. November 2005 eröffnet wurde.


Gedenkstätten

Gedenkstätten haben primär andere Funktionen als Lernorte: Sie dienen dem Erinnern, dem Nachdenken, dem Ermahnen und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Meist sind es Orte des Leids und des Grauens, der Verfolgung und der Vernichtung.


Ich erinnere mich an einen Besuch in Buchenwald, bei dem ich eine Begrüßungsrede halten sollte. Ich habe keinen Ton herausgebracht.


Gedenkstätten sind meistens historische Orte wie Konzentrationsoder Vernichtungslager, Haft- und Erschießungsstätten (siehe den Beitrag von Klaus Ahlheim in diesem Band). Diese Stätten sollen bewahrt und »zum Sprechen« gebracht werden. Oft bieten sie auch Dauerausstellungen zur Geschichte des Ortes und den Kontexten, seiner geschichtlichen Funktion usw. Sie vergegenwärtigen die Vergangenheit und halten diese für die Zukunft im Bewusstsein. Lernen erfolgt zunächst durch Betroffenheit, die dazu anstößt weiter zu fragen.


Virtuelle Räume im Netz

Der Aufruf, herkömmliche Lernorte zu verlassen und sich neuen, für selbstbestimmtes Lernen geeigneten Orten zuzuwenden, geht oft einher mit der Forderung, hierzu auch neue Medien zu nutzen.

Die weitestgehende Umsetzung ist die Entwicklung virtueller Parallelwelten durch Internet-Anwendungen. »Second life« ist eine dauerhaft bestehende 3D-Infrastruktur, die vollständig von ihren »Bewohnern « – Cyber-Space-Figuren – erschaffen und weiterentwickelt wird. Man »lebt« im »Second life« repräsentiert als selbstentworfene, detaillierte, digitale Figur (»Avatar«). Man kann 3D-Inhalte entwerfen und verkaufen, virtuelles Land erwerben und bebauen und virtuelles Geld in einer Mikrowährung verdienen, die sogar in reales Geld umgetauscht werden kann.

Faszinierend ist, dass sich reale Menschen mit ihrem fiktiven Repräsentanten identifizieren und sich als Avatar erleben. Das seit 2003 online verfügbare System hat inzwischen mehr als 15 Millionen registrierte Benutzer; es sind weltweit meist rund 60.000 Nutzer gleichzeitig in das System eingeloggt. »Second life« präsentiert sich auch als Lernort, verfügt über Universitäten, Volkshochschule usw. (vgl. den Beitrag von Petra Grell und Anke Grotlüschen in diesem Band).


Kommune und Stadtteilarbeit

Aktivitäten, die sich auf das Wohnumfeld des Lernens beziehen, bestehen schon lange unter dem Begriff Gemeinwesenarbeit. Sie nimmt Sozialräume (Nachbarschaften, Stadtteile und Gemeinden) zum Gegenstand sozialer Intervention. Als historische Ausgangspunkte gelten die von Samuel Barnett im späten 19. Jahrhundert gegründete Toynbee Hall in London und das von Jane Addams initiierte Hull House – ein Nachbarschaftszentrum in Chicago.

Gemeinwesenarbeit versucht, in Zusammenarbeit mit möglichst vielen Beteiligten die Lebensqualität vor Ort zu steigern, die das Gemeinwesen beeinträchtigenden Probleme aufzugreifen und »basisdemokratische « Willensbildungsprozesse zu ermöglichen.

Über die Vernetzung mit örtlichen Institutionen (Behörden, Schulen, Jugendhäusern, Kirchen), Initiativen (Vereinen, Gruppierungen) und die Aktivierung von Einzelpersonen (Meinungsmachern, Wortführern, Ehrenamtlichen) zielt professionelle Gemeinwesenarbeit auf soziale Veränderungsprozesse mit nachhaltiger Wirkung. »Community Development«, wie in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Stadtentwicklung, bedarf der intensiven Zusammenarbeit mit Vertretern der lokalen und regionalen Wirtschaftsförderung, der Raumplanung u.a.m. Auch die Umsetzung der soziokulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen erhält einen zentralen Stellenwert (vgl. den Beitrag von Jens Schmidt in diesem Band).


Wandern und Reisen

Schon für die »Wandervögel« war der Auszug »aus grauer Städte Mauern« eine Suche. Es ging darum, antizivilisatorische Tendenzen auszuleben. Der Enge, Hässlichkeit und Beklommenheit der Industriestädte wurden die Freiheit, Natürlichkeit und Unbeherrschbarkeit der Berge und der See gegenübergestellt. Neuland zu entdecken – in der Nachfolge der großen Weltreisenden und Entdecker zu Beginn des 19. Jahrhunderts –, war antreibend. Reisen und Wandern wurden zur Metapher des Lebens: Sicherheit zu verlassen, Wege suchen, Gefahren überstehen, in Geborgenheit zurückkommen.

Daraus wuchs eine breite Bewegung. Die Naturfreunde z.B. sind eine international tätige Umwelt-, Kultur-, Freizeit- und Touristikorganisation. Der Verband, dessen Wurzeln in der Arbeiterbewegung liegen, wurde im September 1895 von dem sozialistischen Lehrer Georg Schmiedl in Wien ins Leben gerufen. Heute zählen die Naturfreunde unter dem Dachverband Naturfreunde Internationale (NFI), 500.000 Mitglieder in 21 Ländern, darunter fast 100.000 in Deutschland.

Jenseits von Touristik sind Reisen Lernorte, die es ermöglichen, sich selbst zu erfahren und die Welt zu begreifen. Im »Hungermarsch durch Lappland« hat Adolf Reichwein diese Perspektive eindrucksvoll beschrieben:

»Da standen wir also nun am Rande des geheimnisvollen Landes, der äußersten, fernsten Ecke Europas, wo die wilde Natur sich noch erhalten hatte, … und wo der Mensch ein seltener Gast ist, der sich verliert in der wogenden, endlosen Weite zwischen Wasser, Fluss und Moor. Danach hatten wir uns gesehnt, einem Stück Erde, wo es keine Verkehrsregeln gibt, keine Vorschriften, Verbotstafeln, Gesetze, wo wir frei wie die Adler in diesen Lüften, frei von Menschen nur mit dem Lande leben durften. (Adolf Reichwein, Hungermarsch durch Lappland, Dresden o.J.: 3.)

Adolf Reichwein (geb. 3. Oktober 1898 in Bad Ems, gest. 20. Oktober 1944 in Berlin-Plötzensee) war einer der begeistertsten Reisenden in der Geschichte der Erwachsenenbildung. Er war in den 1920er Jahren in Berlin und Thüringen in der Bildungspolitik und Arbeiterbildung tätig. So gründete und leitete er die Volkshochschule und das Arbeiterbildungsheim in Jena bis 1929. In seinem Hungermarsch nach Lappland beschrieb er tagebuchartig eine extreme Wanderung mit Jungarbeitern in den hohen Norden (vgl. den Beitrag von Lothar Kunz in diesem Band).

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde er entlassen und als Volksschullehrer nach Tiefensee in Brandenburg versetzt, wo er bis 1939 Unterrichtsversuche im Sinne der Reformpädagogik und speziell der Arbeitspädagogik und Projektarbeit durchführte mit Schwerpunkten in Fahrten, handlungsorientiertem Unterricht mit Schulgarten und jahrgangsübergreifenden Vorhaben. Reichwein gehörte als Mitglied des Kreisauer Kreises zum Widerstand gegen Hitler und war als Kultusministerkandidat im Falle eines erfolgreichen Umsturzes des Hitlerregimes vorgesehen. Am 4. Juli 1944 wurde Reichwein von der Gestapo verhaftet und nach einem Prozess vor dem Volksgerichtshof am 20. Oktober 1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee erhängt.


Chancen der Lernorte

Entstanden ist also eine Vielfalt von möglichen Lernorten. Wenn man über expansives Lernen nachdenkt, ist klar, dass auch ein noch so raffiniertes Ensemble von Lernorten Bildung nicht erzwingen kann. Dies ist immer abhängig von Selbsttätigkeit. Lernorte bieten die Chance zur Reflexion. Sie zeigen zwei Vorteile: Zum einen können sie die Schulmüdigkeit durchbrechen; herauszugehen aus der Klausur der Lernanstalten öffnet Horizonte. Zum andern geben sie die Möglichkeit zum unmittelbaren Erleben frei.

Das kommt nicht aus ohne Vorwissen. Die Spirale von Erleben, Auslegen und Verstehen wird angestoßen. Nur dumpf durch ein Museum zu rennen, vergibt die Kraft des eigenen Erlebens. Zwischen Erleben und Begreifen zu vermitteln, ist daher Aufgabe der Bildungsarbeit. Dies betrifft auch die Gewerkschaften in ihrer Tradition als Bildungsbewegung (vgl. den Beitrag von Mechthild Bayer und Klaus Heimann in diesem Band).


Quelle:
Peter Faulstich/ Mechthild Bayer (Hrsg.)
Lernorte
Vielfalt von Weiterbildungs- und Lernmöglichkeiten

VSA Verlag Hamburg 2009


Schlagworte zu diesem Beitrag: Volkshochschule, Hochschulen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 14.04.2009